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Wer hilft wem?


Die Legitimationsfrage einer nachhaltigkeitsorientierten Kulturfinanzierung


Raoul Koether

15. November 2021

 

 

Auf dem Weg „die Menschheit von der Tyrannei der Armut zu befreien und unseren Planeten zu heilen und zu erhalten“, wie es die UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (UN, 2015) pathetisch formuliert, haben wir annähernd die Halbzeit seit ihrer Beschlussfassung 2015 erreicht. Ein nüchterner Blick, sowohl in globaler, als auch europäischer Hinsicht zeigt, der Hälfte der Strecke entspricht das bei weitem nicht. Durch die Auswirkungen der Klimakrise, konkret erlebbar vor Ort und die globale Corona-Pandemie haben wir auch in der breiten Wahrnehmung einen Wendepunkt erreicht. Vielen ist klar geworden, dass es ein einfaches „Weiter-so“ nicht geben kann. Was aber kann Kultur zur Veränderung beitragen?


Kultur selbst ist keines der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele, aber das Fundament für viele der Programmpunkte. Die Direktorin für Kreativität im kulturellen Sektor der UNESCO, Jyoti Hosagrahar, hat 2017 neun Nachhaltigkeitsziele identifiziert, für deren Erreichung Kunst und Kultur eine zentrale Rolle spielen (Hosagrahar, 2017). Ohne eine kulturelle Basis können diese und auch die acht weiteren Ziele vermutlich nicht im gesteckten Zeitfenster erreicht werden.


Nun hat Corona gerade Kunst und Kultur gebeutelt, wie kaum ein Ereignis in der Nachkriegsgeschichte. Auch wenn hoffentlich das Ärgste bald vorbei sein wird, und Kulturveranstaltungen langsam wieder starten: für die Kultur wird es noch lange nicht vorbei sein. Die Pandemie hat tiefe Löcher in den staatlichen Kassen hinterlassen und die Kulturhaushalte werden einen prominenten Platz in den Streichrunden der Kämmer:innen und Finanzminister:innen bekommen.


Die Sparrunden haben begonnen


In München hat es bereits das renommierte Stadttheater, die Münchner Kammerspiele getroffen. Sie müssen in den kommenden zwei Jahren fast 1,2 Millionen Euro einsparen bzw. aus den Rücklagen finanzieren. Der Geschäftsführer des Bühnenvereins Marc Grandmontagne befürchtet, dass „der Fall der Kammerspiele im verhältnismäßig wohlhabenden München (…) eine Vorbildwirkung für viele andere Häuser in deutschen Kommunen haben“ könnte (DLF, 2021). Es wird klar, in welche Richtung die Diskussion in der Konkurrenz von Kultur- und Haushaltspolitik gehen wird und es stellt sich wieder einmal die große Legitimationsfrage, warum und wofür öffentliche Haushalte Geld für Kultur springen lassen sollen, wenn es offensichtlich doch viel drängendere Probleme gibt. Einem bekannten on-dit zufolge legen schließlich die Münchner Steuerzahler:innen jeden Abend, egal, ob eine Aufführung stattfindet oder nicht, bildlich einen Hundert-Euro-Schein auf jeden Platz des Schauspielhauses. Wofür?


Die Antworten darauf schwanken meist zwischen einem unreflektierten „weil es schon immer so war“ und abstrakten Beschwörungen der Bedeutung von Kunst und Kultur für die Gesellschaft. Die grüne Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth aus Augsburg äußerte sich in einem WDR-Podcast z.B. so: „Musik, Literatur, Theater, Museen und Clubs sind Grundnahrungsmittel in einer Demokratie und nicht Sahnehäubchen, die man sich nur in guten Zeiten leisten kann.“ (WDR, 2021). Die Beschwörung der demokratiebildenden und damit quasi systemrelevanten Bedeutung von Kunst und Kultur ist ebenso nett, wie in den Verhandlungen mit Haushälter:innen nutzlos, wie sich immer wieder gezeigt hat und wieder zeigen wird.


Der Hamburgische Senator für Kultur und Medien, Carsten Brosda (SPD) hat Recht, wenn er anmerkt: „Systemrelevant ist ein doofer Begriff. Er sagt, dass ich eine Funktion im Getriebe ausübe. Dabei ist Kultur die Arbeit am Sinn unseres Zusammenlebens. Ohne Kultur kann ich gar nicht begründen, warum wir unsere Gesellschaft so leben, wie wir sie leben.“ (Brosda, 2020). Damit räumt er zum einen das beliebte „Grundnahrungsmittel-Argument“ ab, denn in der Tat bringen Kunst und Kultur, außer für die im Kulturbetrieb Beschäftigten, kein Essen auf den Tisch, zum anderen eröffnet er eine Perspektive, die die Legitimationsfrage von Kultursubventionen beantworten könnte.


Kultur ist mehr als Seelennahrung


In seinen „Gefängnisheften“ aus den Jahren 1929 bis 1935 schreibt der marxistische Philosoph und Schriftsteller Antonio Gramsci: „Die Eroberung der kulturellen Macht erfolgt vor der Übernahme der politischen Macht“ (Gramsci, 1991). Dieser Satz fasst seine Forderung nach kultureller Hegemonie zusammen, wonach im politischen Kontext Kunst und Kultur als Produzenten zustimmungsfähiger Ideen die Grundlage für die Organisation unseres Zusammenlebens und einer wünschenswerten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung geben. Das gibt Kunst und Kultur eine zentrale Rolle im politischen Diskurs, die weit über die „Erbauung“, „Unterhaltung“ und „Seelennahrung“ für die Menschen hinaus geht. Und es rechtfertigt, gerade auch für die progressiven Kräfte in der Gesellschaft die Notwendigkeit, Kultur finanziell zu fördern und damit einen Impact auf einen gesellschaftlichen Wandel auszulösen.


Machen wir uns nichts vor, während politisch progressive Kräfte in unserer Gesellschaft noch immer am „Sahnehäubchen Kultur“ laborieren, nutzen konservative, libertäre und nationalistische Kräfte, teilweise planmäßig, teilweise intuitiv, spätestens seit Beginn der 1980er Jahre die Kraft der Kultur zu einer politischen Diskursverschiebung. Besonders aktiv sind in dieser Hinsicht in den letzten Jahren insbesondere rechtsextreme Kräfte, wie die Identitäre Bewegung, aber auch Klimaleugner:innen, die in einer Art Querfrontstrategie den Aufbau einer kulturellen Hegemonialstellung aufzubauen versuchen (Raulf, 2017) und Gramsci pervertieren.


Viele Linke und Progressive nehmen eine aktive Kulturpolitik, die in der Wechselwirkung von Kultur, Wissenschaft und Politik entstehen muss, als integralen Bestandteil des Wettbewerbs um die Zukunft unserer Gesellschaft nicht wirklich ernst. Sie schicken aus den Fraktionen der Parlamente und Räte ihre „Kulturkasperl“, wenn es um kulturelle Projekte, Theater, Museen usw. geht, die dann folgerichtig auf verlorenem Posten kämpfen, wenn Zielkonflikte um Haushaltsmittel entstehen. Was dabei verloren geht, ist, dass die natürlichen Verbündeten einer progressiven, nachhaltigkeitsorientierten Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik in der Kultur gestärkt werden, ohne die der notwendige Systemwechsel nicht gelingen kann.


Die Karten neu mischen


Unser auf Marktinteressen, Gewinnmaximierung und Besitzstandswahrung ausgerichtetes System ist am Ende angekommen. Es geht also darum, die Karten neu zu mischen, oder, wie Franklin D. Roosevelt es in den 1930er Jahren genannt hat, einen „New Deal“, der einen, aus einer schweren Krise geborenen Paradigmenwechsel in der Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte der Vereinigten Staaten darstellte (Adams, 2007). Wenn wir heute, ausgehend von unserer jetzigen globalen sozialen und ökologischen Krise, zurecht anmahnen, unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sozial gerechter, partizipativer, nachhaltiger, klimafreundlicher und internationaler zu machen, kurz einen Green New Deal (Rizzo, 2019) einfordern, stehen wir vor einer ähnlichen Ausgangslage. 


Blicken wir zurück auf Roosevelts New Deal, war ein Kernelement auch ein „Cultural New Deal“, bestehend aus verschiedenen Bausteinen, die unterschiedliche Zwecke verfolgten (Adams/Goldbard, 1995). Es war zwar einerseits ein Beschäftigungsprogramm für hungernde Künstler:innen und diente einer Öffnung von Kunst und Kultur für breitere Bevölkerungsschichten. Der Cultural New Deal hatte auch einen kommunikativ-politischen Aspekt. Er sollte den sozialen New Deal im Bewusstsein der Bevölkerung orchestrieren und verankern. Insofern wäre es stringent und sinnvoll auch einen Green New Deal entsprechend zu begleiten, so wie es beispielsweise der Kulturforscher Christian Steinau in einem Konzept eines „Cultural Green Deals“ vorschlägt (Steinau, 2020).


An anderer Stelle seiner „Gefängnishefte“ schreibt Antonio Gramsci: „Die Krise besteht gerade eben darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann“ (Gramsci, 1977). Wie können wir also zu Geburtshelfern des Neuen werden?


Die Perspektive ändern


Ein Kernelement ist in meinen Augen, die Perspektive auf Kultursubventionen zu verändern. Subvention, abgeleitet aus dem lateinischen „subvenire“ bedeutet jemandem „zur Hilfe kommen“. Der Begriff Kultursubvention wird meist aber so verstanden, dass der Staat der Kunst und Kultur mit Geld zur Hilfe kommt. Der Perspektivwechsel bedeutet, dass Kunst und Kultur den grundlegenden gesellschaftspolitischen Veränderungen in Richtung Nachhaltigkeitsziele zur Hilfe kommen müssen, damit sie gelingen können. Dafür muss der Weg bereitet werden, indem den strategischen Bündnispartnern dieser Veränderungen aus dem Kulturbereich eine gut ausgestattete Wirkungsgrundlage gegeben wird. Wer das erkennt, kann als Progressive:r nicht mehr ernsthaft über Streichungen im Kulturetat nachdenken.



Quellen


Adams D., Goldbard, A. (1995): New Deal Cultural Programs: Experiments in Cultural Democracy. Adapted from a previously unpublished manuscript entitled Cultural Democracy, written by the authors in 1986. Link (30.08.2021)


Adams W.P. (2007): Die USA im 20. Jahrhundert. 2. Auflage. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München, S. 173.


Brosda, C. (2020) [Twitter, @CarstenBrosda], 14.05.: Link (17.08.2021)


DLF [Deutschlandfunk] (2021), 28.07.: Weniger Geld für Münchner Kammerspiele: Link (17.08.2021)


Gramsci, A. (1991): Marxismus und Kultur. Ideologie, Alltag, Literatur. 3. Auflage. VSA-Verlag, Hamburg.


Gramsci, A. (1977): Quaderni del carcere. Edizione critica dell'Istituto Gramsci (vol. 1°). Einaudi, Torino. S. 311. Übersetzung des Verfassers


Hosagrahar, J. (2017): Culture: at the heart of SDGs. In: The UNESCO Courier, No.1/2017, S. 12f.


Raulf, S. (2017): Sprache und Kultur als Strategie der Neuen Rechten zur Erlangung kultureller Hegemonie. Landeszentrale für Politische Bildung des Landes Sachsen-Anhalt/Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Campus Publik – Schriften zur Politischen Bildung), Halle. Link (17.08.2021)


Rizzo, S. (2019) 11.02.: What’s actually in the ‘Green New Deal’ from Democrats? Wall Street Journal. Link (30.08.2021)


Steinau, C. (2020) 01.06.: Von „Kultur für Alle“ zum Cultural Green Deal: Über neue Möglichkeiten sozialdemokratischer Kulturpolitik. Link (30.08.2021)


UN [United Nations] (2015) 25.09.: Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development. Resolution of the General Assembly No. A/RES/70/1


WDR [Westdeutscher Rundfunk] (2021), 15.04.: COSMO Der Soundtrack von... Claudia Roth - der Podcast. Link  (17.08.2021)



Autor


Raoul Koether

Raoul Koether, Dozent an der Universität der Bundeswehr München und der Akademie Mode & Design der Hochschule Fresenius, ist SPD-Politiker, 2. Vorsitzender der Kulturplattform jourfixe-muenchen und Vorstandsmitglied des Kulturforum München-West. Mit Nachhaltigkeitsthemen beschäftigt er sich seit 2018 als Leader des „Climate Reality Project“ und als assoziiertes Mitglied des Berlin Instituts für Partizipation. 

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