Blog

Blog zum Tutzinger Manifest

Das Tutzinger Manifest und die Zukunft

kultureller Nachhaltigkeit

"Wenn Nachhaltigkeit attraktiv sein soll, dann wird die Kategorie der Schönheit
zum elementaren Baustoff." (Tutzinger Manifest, 2001)



Was braucht eine Kultur der Nachhaltigkeit im digitalen Zeitalter?


In Teilen des Kulturbetriebs ist – immer noch – ein Reflex zu spüren, konsequentere Ansprüche an Nachhaltigkeit vorschnell als kunstfeindliche Selbstbegrenzung abzuwehren. Im prominent unterstützten "Tutzinger Manifest" von 2001 haben Mitwirkende festgestellt, dass nachhaltige Entwicklung nur funktioniert, wenn sie die "kulturell-ästhetische Dimension" einbezieht. Im letzten Jahr hat das Neue Europäische Bauhaus zu seinem Kern gemacht, was das Tutzinger Manifest 2001 proklamiert hatte: Nachhaltigkeit und Schönheit, Nachhaltigkeit und ein Green Deal als kulturelles Projekt.


Die Kulturpolitische Gesellschaft und ihre Regionalgruppe Bayern möchten nach den (Er)Folgen und Konsequenzen dieser Einsichten und Ansprüche fragen, einen selbstkritischen Blick zurück wagen und zugleich weitergehen. Bei welchen der 17 UN-Nachhaltigkeitszielen ist die Kultur wirklich auf gutem Weg? Können uns die Erfolge in Nachhaltigkeitsbereichen wie Kultureller Bildung, Teilhabegerechtigkeit, Inklusion und andere zufrieden stellen? Was ist tatsächlich gelungen? Was braucht eine Kultur der Nachhaltigkeit im digitalen Zeitalter?

Tutzinger Manifest (PDF)

von Ralf Weiß, Henning Mohr und Uta Atzpodien 24 Jan., 2022
Ein Nachhaltigkeitsmanifest der Kultur Ralf Weiß, Henning Mohr und Uta Atzpodien 24. Januar 2022 „Wir sollten uns darauf konzentrieren, eine Politik zu unterstützen, die uns mehr verspricht als bloße Selbstbehauptung, die dazu beitragen kann, eine friedliche und dynamische Transformation zu fördern.“ (Willy Brandt) Obwohl die Evangelische Akademie im bayrischen Städtchen Tutzing im (kultur-) politischen Diskurs heutzutage wenig bekannt sein dürfte, spielt sie eine bedeutsame Rolle im deutschen Transformations- bzw. Nachhaltigkeitsdiskurs: Bereits im Jahr 1963 skizzierten Willy Brandt und Egon Bahr hier ihre Perspektiven einer neuen Ostpolitik und prägten erstmals die Formel »Wandel durch Annäherung«. Gut 25 Jahre später kam es zur Deutschen Wiedervereinigung. Der Ort war also gut gewählt, als Dirk Messner und Hans Joachim Schellnhuber mit dem Wissenschaftlichen Beirat für globale Umweltveränderungen (WBGU) im Jahr 2011 ebenfalls in Tutzing die Perspektive einer »Großen Transformation zu einer klimaverträglichen Gesellschaft« formulierten. Knapp fünf Jahr später verabschiedeten die Vereinten Nationen die Agenda 2030 zur »Transformation unserer Welt«. Sowohl von Willy Brandt als auch vom WBGU gingen wesentliche Transformationsimpulse für die nationale und internationale Politik aus und definierten zentrale Wege zur UN Agenda 2030. Tutzinger Manifest Kurz nach der Jahrtausendwende, im Jahr 2001, war man von einer globalen Transformationsagenda noch weit entfernt. Das galt auch für die Kulturpolitik, zumindest im Hinblick auf eine Nachhaltigkeitstransformation. Die zu diesem Zeitpunkt noch junge Bundesbehörde des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) hatte es zunächst stärker mit einer transformativen Kulturpolitik zur Deutschen Einheit zu tun. So waren es im Jahr 2001 andere Akteur*innen wie Bernd Wagner von der Kulturpolitischen Gesellschaft, die Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt, Günther Bachmann vom frisch gegründeten Rat für nachhaltige Entwicklung oder Monika Griefahn, die Vorsitzende des Kulturausschusses des Deutschen Bundestages, die im Anschluss an eine Tagung an der Evangelischen Akademie Tutzing das Tutzinger Manifest zur kulturellen Dimension der Nachhaltigkeit verantworteten bzw. in die Öffentlichkeit brachten. Das Tutzinger Manifest war vor allem an die im Folgejahr terminierte UN-Weltkonferenz für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg gerichtet und verfolgte als wichtigstes Anliegen, Ästhetik und Kultur als maßgebliche Dimension in das sich etablierende Nachhaltigkeitskonzept und die internationale Nachhaltigkeitspolitik aufzunehmen. Der Kulturbereich und die Kulturpolitik standen nicht im Vordergrund dieses kulturell motivierten Nachhaltigkeitsmanifestes, auch wenn nicht zuletzt Monika Griefahn künftige Verbindungen von Nachhaltigkeitspolitik und Kulturpolitik skizzierte. Auch Fragen einer gesellschaftlichen Transformation und eines kulturellen Wandels spielten in dem Manifest noch keine zentrale Rolle – obgleich auch die Revision überkommener Normen, Werte und Praktiken in den Blick genommen wurde. Das Tutzinger Manifest begründete eine nationale Debatte um Kultur und Nachhaltigkeit, die über einen längeren Zeitraum weder in der Nachhaltigkeitspolitik noch in der Kulturpolitik einen großen Einfluss hatte. Die in anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft schon viel früher einsetzende Nachhaltigkeitsorientierung und Nachhaltigkeitstransformation, die sich beispielsweise an Konzepten und Politiken von Energiewende, Ernährungswende oder Mobilitätswende festmachen, wurden im Kulturbereich viel zu lang wenig thematisiert und wenig vorbereitet. Kulturpolitik und Nachhaltige Entwicklung Im letzten Jahr – zum 20. Jubiläum des Tutzinger Manifests – hatte sich die Situation zwar etwas verbessert, allerdings steckt die Verankerung der Nachhaltigkeitsdebatte im deutschsprachigen Kulturbereich noch in den Kinderschuhen. Derzeit befindet sich dieser Sektor zwischen einer zivilgesellschaftlichen Klima- und Zukunftsbewegung und einer auf europäischer und weltweiter Ebene voranschreitenden Entwicklung einer Kultur- und Nachhaltigkeitspolitik, die die Notwendigkeit und das Potential von Nachhaltiger Entwicklung in der Kultur und durch die Kultur erkennt. Diese reichen auf europäischer Ebene vom Green Deal und der Initiative Neues Europäisches Bauhaus bis zum aktuellen EU Arbeitsplan Kultur für die Jahre 2019 bis 2022, unter deren sechs Prioritäten zwei Prioritäten auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz fokussiert sind: Sustainability in cultural heritage und Culture as a driver for sustainable development . Zu beiden Themen erarbeitet die EU zur Zeit Berichte und Handlungsempfehlungen. Auch die Kulturminister*innen der G20-Staaten haben im Jahr 2021 mit der Verabschiedung der Rom Erklärung (G20 2021) das Potenzial der Kultur zur Lösung der Klimakrise zu einem Grundprinzip ihrer Kulturpolitik gemacht. Debatte zur Nachhaltigkeitskultur im digitalen Zeitalter Damit sind zwar die ersten wichtigen Meilensteine auf den Weg gebracht worden, für eine ernsthafte Nachhaltigkeitsbewegung braucht es aber weiterhin eine Stärkung von Diskurs und Praxis. Der Kontext des 20. Jubiläums des Tutzinger Manifests bot einen geeigneten Zeitraum, um zukunftsweisende Perspektiven für die Nachhaltigkeitstransformation der Kulturpolitik zu entwerfen. Die Kulturpolitische Gesellschaft startete im letzten September diesen Blog, in dem eine Reihe wesentlicher Fragen diskutiert wurden: Bei welchen der 17 UN-Nachhaltigkeitszielen ist die Kultur wirklich auf gutem Weg? Können uns die Erfolge in Nachhaltigkeitsbereichen wie Kultureller Bildung, Teilhabegerechtigkeit, Inklusion und andere zufrieden stellen? Was ist tatsächlich gelungen? Was braucht eine Kultur der Nachhaltigkeit im digitalen Zeitalter? Die Blogbeiträge beschäftigten sich sowohl mit einzelnen Kulturfeldern als auch Kunstsparten, etwa Bibliotheken und Literatur, oder auch Nachhaltigkeitsperspektiven für kulturelle Bildung und Kulturförderung. Sie hinterfragten das aktuelle Leitbild der Kulturpolitik und setzten sich mit der Notwendigkeit eines neuen Tutzinger Manifests auseinander. Parallel dazu entstand eine 9-teilige Podcast-Reihe, in der führende Persönlichkeiten aus dem Nachhaltigkeits- und Kulturbereich über zukunftsweisende politische Strategien und Schwerpunktsetzungen diskutierten. Nachhaltigkeitsmanifest der Kultur als Aufbruchssignal Die Ergebnisse dieses Prozesses hätten in der in Tutzing zunächst für November 2021 geplanten Tagung »Nachhaltigkeit als kulturelles Projekt« vorgestellt und diskutiert werden sollen. Pandemiebedingt wurde diese Veranstaltung verschoben und findet die Diskussion eines kulturpolitischen Nachhaltigkeitsmanifests in einem digitalen Worldcafe statt. Ähnlich wie die unter dem Leitbild »Kultur für alle« in den 1970er-Jahren erfolgte Erweiterung der Kulturpolitik, gilt es auch heute, die Kulturpolitik mit Blick auf die gesellschaftlichen und weltgesellschaftlichen Herausforderungen zu erweitern und unter ein neues Leitbild zu stellen, das sich mit den schon entstandenen Ansätzen und Initiativen für eine Nachhaltigkeitskultur verbindet. In einem Nachhaltigkeitsmanifest der Kultur kann ein solches Leitbild formuliert werden. Wie bei anderen Manifesten, dem Futuristischen Manifest oder dem bis heute relevanten Bauhaus Manifest kann von einem zukunftsweisenden Nachhaltigkeitsmanifest ein kultureller Aufbruch und gesellschaftlicher Wandel ausgehen. International eröffnet die in diesem Jahr in Mexiko stattfindende UNESCO Weltkonferenz Mondiacult 2022 zu Kulturpolitik und Nachhaltige Entwicklung die Perspektive, dieses Aufbruchssignal weiterzutragen. Quellen (1) Brandt, Willy (1963): Denk ich an Deutschland … Rede an der Evangelischen Akademie Tutzing (2) Europäische Kommission (2021): New European Bauhaus. Communication from the commission to the European Parliament, the Council, the European economic and social committee and the committee of the regions (3) Europäische Kommission (2018): Work Plan for Culture (2019 bis 2022), Link , zugegriffen: 27. Oktober 2021 (4) Europäische Union (2019): Entschließung des Rates der Europäischen Union und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zur kulturellen Dimension der nachhaltigen Entwicklung. In: Amtsblatt der Europäischen Union v. 6.12.2019 (5) Griefahn, Monika (2002): Nachhaltigkeitspolitik und Kulturpolitik – Eine Verbindung mit Zukunft. In: Kulturpolitische Mitteilungen 97 II/2002:28–33 G20. 2021. Rome Declaration of the G20 ministers of culture. (6) Hoffmann, Hilmar und Kramer, Dieter (2013/2012): Kultur für alle. Kulturpolitik im sozialen und demokratischen Rechtsstaat. Link , zugegriffen: 27. Oktober 2021 (7) Kulturpolitische Gesellschaft (2001): Tutzinger Manifest für die Stärkung der kulturell-ästhetischen Dimension Nachhaltiger Entwicklung, Link (8) UNESCO (2018): Kulturpolitik neu | gestalten. Kreativität fördern, Entwicklung voranbringen. Bericht zur Rolle der Kulturpolitik für die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (9) UNESCO Mondiacult 2022, Link (10) Weiß, Ralf (2021a): Neustart Kultur im Zeichen der Nachhaltigkeit. Aufbruch in eine andere Moderne. In: Zeit für Zukunft. Inspirationen für eine klimagerechte Kulturpolitik, Hrsg. Kulturpolitische Gesellschaft, S. 18–21, Link (11) Weiß, Ralf (2021b): Vom globalen Leitbild zur nachhaltigen Kulturpolitik. In Jetzt in Zukunft. Zur Nachhaltigkeit in der Soziokultur, Hrsg. Schneider, Wolfgang/Gruber, Kristina/Brocchi, 139–43 Der Beitrag erschien erstmals in den Kulturpolitischen Mitteilungen IV/2021 der Kulturpolitischen Gesellschaft und wurde für den Blog aktualisiert. Autoren
von Ute Zander 17 Jan., 2022
Ute Zander 14. Januar 2022 es ist weiß sagt jemand es ist schwarz sagt jemand anderes es sind Grautöne sagt der Reformer es ist bunt sagt der Transformer Dieses Gedicht war mein persönliches Fazit aus einer weiteren Global-Change-Forschungs-Tagung, bei der wieder einmal Diskussionen im Entweder-Oder-Modus geführt wurden, anstatt Sowohl-als-Auch Lösungen zu entwickeln und endlos über Trade-offs gesprochen wurde, anstatt zu überlegen, wie man die ihnen zu Grunde liegenden Rahmenbedingungen verändern kann. Nach vielen Jahren als Beraterin an der Schnittstelle zwischen Nachhaltigkeitsforschung bzw. Global Change Forschung und deren konkreter Umsetzung in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten war es Zeit, das Thema Nachhaltige Entwicklung aus einer persönlicheren Perspektive anzugehen, Beruf und Berufung zusammen zu bringen: als Bildhauerin und auf einer grundsätzlicheren Ebene der Nachhaltigkeit. Wie verändert man Systeme? In ihrem Buch „Thinking in Systems“ (1) führt Donella Meadows eine Reihe von Leverage Points auf, Möglichkeiten den Hebel anzusetzen, um komplexe Systeme zu verändern. Sie arbeitet sich von den sehr handfesten Bereichen wie Konstanten und Parametern im System über Feedbackschleifen, Material- und Informationsflüsse, hin zu den immateriellen Bereichen der Regelwerke und Machtstrukturen, der Ziele und schließlich der leitenden Paradigmen. Und dann setzt sie noch einen Schritt obendrauf: Die Macht oder Fähigkeit, Paradigmen zu transzendieren. Ich habe schallend gelacht, als ich ihre Beschreibung dieses Punkts gelesen habe – erleichtert und befreit! „actually, it could be fantastic!“ Paradigmen zu transzendieren, das ist für mich das Feld der Kunst und der Spiritualität, der Erfahrung ohne vorgegebene Wertungen, des Experimentierens und der Neugier. Zu oft – für meinen Geschmack – wird das Nachhaltigkeitsthema als Problem angegangen. Doch, wie der Gründer der Transition Town Bewegung Rob Hopkins im Film „Tomorrow“ so treffend bemerkt: „Actually, it could be fantastic!“ (2) Es ist die Gestaltungsaufgabe schlechthin. Und je mehr Menschen sich daran beteiligen, desto besser. Stattdessen schrecken viele Menschen zurück vor den Vokabeln „Klimawandel“, „Nachhaltige Entwicklung“ oder „Große Transformation“. Sie lösen oft das Gefühl aus, dass ihnen hier etwas weggenommen oder verboten werden soll. Das führt bei einigen zu Hilflosigkeit, oder sogar zu Leugnung und Verweigerung. Hier kann die Erfahrung künstlerischer oder kreativer Aktivitäten Abhilfe schaffen. Künstlerische Prozesse als Erfahrungsfeld ... In keinem Bereich habe ich jemals den Zusammenhang zwischen Freiheit und Verantwortung so klar und wirksam erfahren wie in meiner Bildhauerei. Das hängt nur teilweise an der Art wie ich arbeite: von einem Stück Baumstamm das Material abtragend, mit Beil, Messer und Klöppel, Raspel und Feile und schließlich Schleifpapier. Dieses Arbeiten beinhaltet eine unglaubliche Konsequenz. Jede Handlung hat irreversible Folgen. Oder flapsig ausgedrückt: Was weg ist, ist weg! Ich genieße die Freiheit des künstlerischen Arbeitens ohne Richtig und Falsch. Es gibt immer nur den nächsten Schritt und die Konsequenzen daraus. Das heißt, im Atelier befinde ich mich in einem geschützten Raum, einem wertfreien Rahmen in dem die Konsequenzen meines Handelns zwar erfahrbar und teilweise sehr emotional, aber nicht gefährlich oder gefährdend sind. Das Stück Holz und meine Werkzeuge setzen mir Grenzen des Machbaren und Möglichen. Aber innerhalb dieses Rahmens bin ich frei. … und als Vorbild Zugleich ist der künstlerische Prozess eine Art Prototyp des Lernens und Entwickelns, der sich auf andere Bereiche übertragen lässt. Es ist ein ständig ablaufender Zyklus aus Gestalten, Innehalten, die Werkzeuge hinlegen, fünf Schritte zurücktreten und in diesem Abstand die Figur umkreisen, Wahrnehmen aus unterschiedlichen Perspektiven ohne zu bewerten, das Wahrgenommene reflektieren anhand meiner Vision oder Idee von der Skulptur, Integrieren von Realität und Vorstellung, Entscheiden über den nächsten Schritt und wieder Handeln. Ich wünsche mir, dass mehr Menschen diese Art von Erfahrungen machen können: dass sie die Zusammenhänge zwischen Freiheit und Verantwortung unmittelbar erleben, dass sie Selbstwirksamkeit erfahren und Selbstbewusstsein aufbauen. Und dass sie darauf aufbauend ihre Ängste und Widerstände überwinden können und sich an der großen Gestaltungsaufgabe Nachhaltigkeit beteiligen. Auch das zu ermöglichen ist für mich eine Aufgabe von nachhaltiger Kulturpolitik oder besser transformativer Kulturpolitik. Quellen: (1) Meadows, Donella, Sustainabillity Institute (2008): Thinking in Systems, White River Junction, Chelsea Green Publishing Company. (2) Dion, Cyril; Laurent, Melanie (2015): Tomorrow, Pandora Film. Autorin
von Daniel Gad 10 Jan., 2022
Findungsprozess zu einem neuen Normal in der Kultur Daniel Gad 10. Januar 2022 Die Zielrichtung ist bereits eindeutig Eigentlich ist doch bereits seit dreißig Jahren alles gesagt: Dass wir unsere Lebensweisen nach den Kriterien der Nachhaltigkeit neu ausrichten müssen, dürfte mittlerweile im Kern nicht mehr ernsthaft befragt werden – sicher wohl aber in den Details. Alle Erkenntnisse aus der Nachhaltigkeitsdebatte stellen klar: Die menschliche Entwicklung und somit die allermeisten Lebensweisen rund um den Erdball sind in ihrer derzeitigen Ausprägung endlich. Deren Fortsetzung wird dazu führen, dass zukünftige Generationen nicht auf gleiche Weise werden leben können. Diese schmerzliche Erkenntnis ist sicherlich zunächst einmal ein wirklich herber Verlust bei all den unglaublich bereichernden, schönen, Menschen verbindenden und Vielfalt vermehrenden Errungenschaften, die allein die Ausweitung der globalen Mobilität oder die in einigen Teilen der Welt erreichte, praktisch grenzlose Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und Sachgegenständen mit sich führte. Es ist jetzt die Zeit gekommen, zu klären, wie wir diese Transformation so angehen, dass sie einerseits die hier nötige Wirkkraft erzielt und andererseits wir Wege finden, bedeutende Errungenschaften zu bewahren. Das gilt für alle Bereiche unserer Gesellschaften und so auch für die künstlerische Praxis und die Kulturvermittlung. Die Pandemie als Erfahrungswert Die bald zwei Jahre andauernde Covid-Pandemie zwang uns kennenzulernen, was es bedeutet, das bisherige Handeln in so vielen Facetten neu zu denken und anzugehen – auch wenn wir selbstverständlich alles darum geben würden, dieses Erlebnis und das damit verbundene Experiment mit unseren Gesellschaften wäre nie geschehen. Wir alle mussten erleben, wie von oben verordneten Beschränkungen enormen Ausmaßes zur Bewältigung einer solchen Krise aussehen können: einerseits Fremdbestimmung und zugleich eine klare finanziell untermauerte Entscheidung unglaublicher Größenordnung seitens der politischen Entscheidungsträger. Hier und da ist es zwar gelungen, mit Kreativität und Erfinder*innengeist alternative Lösungen zu finden, trotz der nötigen Einschränkungen weiter zu machen. Und gerade im Zusammenhang mit digitalen Ansätzen wurden so auch neue Wege zu arbeiten, zu präsentieren oder auch teilhaben zu lassen gefunden, die nun Bestandteil der beginnenden Post-Pandemie-Zeit werden könnten. Man könnte hier in Teilen geradezu von einem Innovationsschub sprechen. Doch ist ebenso klar: das Erleben von Verlusten und Verboten war für alle Menschen weitgehend unfreiwillig und begleitet mit Sorgen, Ängsten vor Bedrohung, Verlust, Veränderung und weiteren Existenz bedrohenden Faktoren. Ein Ansatz, der aus der Not der Pandemie heraus begründet ist, keineswegs aber unserem demokratischen, freiheitlich denkenden Grundverständnis und dem damit verbundenen eigenständigen Denken und Entscheiden der einzelnen Bürger*innen entspricht. Die Akzeptanz und Verinnerlichung des neuen Handelns und des Umgangs mit Verlust bisheriger Freiheiten bedarf über Not-Entscheidungen hinaus weit mehr Bottom up-Ansätze. Zudem konnten wir alle auch erleben, welche Möglichkeiten zum Wandel – gar auch zum unmittelbaren Wandel – sich bieten, wenn die politischen Entscheidungsträger entschlossen und umfassend einen Transformationsprozess begleiten. Geht Nachhaltigkeit ohne Einschränkungen? So anders die Covid-Pandemie in vielen Dingen im Vergleich zur Nachhaltigkeitsdebatte ist, so sehr gibt es aber auch eindeutige Bezugspunkte, die es nun zu nutzen gilt, die Transformation unserer Gesellschaft endlich und richtig anzugehen. Das Erleben von kurzfristigen Verordnungen durch den Staat und massive Einschränkungen sich (gerade auch international) frei bewegen zu dürfen, war sicherlich von eindrücklich verlustbezogener Erfahrung. Aus Sicht der Nachhaltigkeitsdebatte würde es womöglich Sinn machen, diese pandemiebedingten Mobilitäts-Einschränkungen beizubehalten. So sehr uns ein solcher Gedanke widerstrebt und gerade auch der gesellschaftspolitischen Relevanz des internationalen Kulturaustauschs widerspricht: was bedeutet es, diese Erfahrungen zu nutzen und einzuspeisen in die nun anstehende Transformation hin zu einem nachhaltigen Lebensstil? Denn paradoxerweise befinden wir uns derzeit auch an einem Punkt, wo es einerseits mit verständlichen Argumenten einzufordern gilt, dass wir nach so vielen Monaten pandemiebedingter Einschränkungen das Recht haben müssen, zu unseren alten Gewohnheiten, beispielsweise der umfangreichen Mobilität, zurückzukehren. Die akute Situation scheint uns das Recht zu geben, nun auch akut erlebte Verluste wieder zu mindern: Jetzt hier in der Gegenwart und ebenso in der Zukunft. So wäre Verantwortung gegenüber den Mitmenschen gezeigt. Andererseits gilt es, die Pandemie als Zäsur zu betrachten, die es zu nutzen gilt, den Neustart innerhalb einer neuen Normalität, sprich einer der Nachhaltigkeit verpflichteten Transformation, auszurichten. Wenn diese Transformation doch so schwerfällt, ist nicht jetzt der bestmögliche Zeitpunkt dazu? Kann nicht diese Situation eines Neustarts helfen, die gegenwärtigen Bedürfnisse mit den Bedürfnissen der zukünftigen Generationen zusammenzubringen und somit auch in unser Verantwortungsgefühl die Nachhaltigkeit mit einzubeziehen? Schutz der Künste nötig? Doch wie steht es innerhalb dieses Dilemmas um die Künste? Ist es wirklich so, dass unsere künstlerische Praxis eine Repräsentantin der Nicht-Nachhaltigkeit darstellt und somit als Gegenteil von Zukunftsfähigkeit zu bewerten ist? Stellten wir doch an anderen Stellen wiederholt fest, wie wichtig die künstlerische Praxis für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaften sei. Sprich: Was an unserer künstlerischen Praxis gilt es, als Teil der bahnbrechenden Erkenntnisse der menschlichen Zivilisation auch gegen die Bedarfe eines globalen Klimaschutzes zu schützen? Welche Argumente würden eine klimabedingte Beschränkung der Freiheit der Künste rechtfertigen? Allein das hier zu schreiben, wirkt bereits paradox, doch es wird deutlich, dass einerseits der globale Klimaschutz einen Wandel, eine Abkehr, ein Weniger als bisher von uns begründet abverlangt und verlangen muss. Wenn wir alle nur ein bisschen klima-neutraler werden, dann genügt dies keineswegs, so die klare Erkenntnis. Doch wie bringen wir dieses Wissen zusammen damit, dass die künstlerische Praxis und damit einhergehend auch die Kulturvermittlung in ihrer Freiheit geschützt und bewahrt werden müssen? Denn sonst würden wir das ihr innewohnende Potenzial in nicht abzuschätzender Weise beschneiden. Wie bringen wir Bewahren und Verändern produktiv und nicht einschränkend zusammen? So, wie in vielen Bereichen des Lebens, gibt es bereits auch erste Ansätze darin, künstlerische Praxis entlang der Kriterien des nachhaltigen Lebens zu organisieren. Doch wie stellen wir sicher, dass an dieser Stelle nicht höhere Kosten die Kreativität ausbremsen? Welche zusätzlichen Förderansätze braucht es deshalb für die künstlerische Praxis und die Kulturvermittlung? Auch hier gibt es mit den wohl eher in der Schublade verschollenen „Konzeptgedanken zu einem Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit“ von Adrienne Göhler erste Ansätze. Womöglich wurden sie auch innerhalb des eigenartigerweise bereits wieder ausgelaufenen „Fonds Nachhaltigkeitskultur“ aufgegriffen. Und welche Förderung braucht es hier auch in globaler Perspektive? Ebenso wie der Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen völkerrechtlich verankert auch zu einer globalen Gemeinschaftsaufgabe formuliert wurde. Begleitend stellt sich die dringliche Frage, was nachteilig mit der Qualität der künstlerischen Praxis passiert, wenn Nachhaltigkeitskriterien zu weniger internationalem Austausch, weniger Inspirationsmomenten, weniger Koproduktionen, weniger künstlerisch-inhaltlich geleiteten Entscheidungen für die Beteiligung von Künstler*innen aus anderen Weltregionen oder für Produktionsorte in entlegenen Teilen der Welt führen, weil beispielweise die Mobilität per Flugzeug geächtet wurde. Ausnahmeregelung für Kultur? Kann hier eine besondere Form der „Exception Culturelle“, wie sie für den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen im Kontext der globalen Wirtschaftsbeziehungen formuliert wurde, ein Schlüssel sein? Doch wie weit kann eine derartige Ausnahmeregelung für die Besonderheiten der Kultur greifen? Einerseits sprechen Argumente für eine ungezügelte Ressourcennutzung von künstlerischer Praxis für die Wahrung von uneingeschränkter Kunstfreiheit und damit Wirkungsfreiheit. Die Systemrelevanz von künstlerischer Praxis liegt ja gerade darin, unsere Gesellschaft produktiv zu begleiten und zu hinterfragen. Doch gehören im Zuge der daraus erwachsenen gesellschaftspolitischen Verantwortung, Vorbild und Vorreiter zu sein, auch die Produktionsbedingungen und deren Vorbildfunktion für sowohl das Privatleben als auch andere gesellschaftliche Bereiche hinzugezogen in das Handeln, welches Teil eines entschieden nachhaltigen Lebensstils sein muss. Kunst ist ja bereits heute nicht völlig frei; heutzutage würde kaum jemand hinterfragen, dass Tierquälerei aus der Freiheit der Kunst ausgenommen ist. Was macht es also, wenn die künstlerische Praxis noch ein Stück unfreier wird, weil die Freiheiten der zukünftigen Generation gleichwertig wichtig sind wie unsere Freiheiten hier und jetzt? Doch was passiert mit unserer künstlerischen Praxis, wenn der gesamte Zyklus von Entwurf, Produktion, Distribution bis zur Entsorgung umfassend klimaneutral ausgerichtet werden würden? Wie können wir daraus entstehende Defizite auffangen? Neue Ansätze Neue Ansätze liefert uns hier eine relativ junge Fachdisziplin: das Transformationsdesign. Hier wird unter anderem erforscht, wie es dennoch gelingt, eine Praxis zu bewahren oder sie guten Gewissens zu verändern, ohne dass ein wirklicher Verlust der inhaltlichen Zielsetzung entsteht. Die Architektur hat innerhalb der Denkmalpflege durchaus Antworten darauf gefunden, wie Bewahren und Verändern zusammenzubringen sind. Sei es, dass Thermo-Verglasungen auch in einem denkmalgeschützten Gebäude möglich sind oder dass moderne Architektur an denkmalgeschützte Architektur anschließen kann, ohne deren Formensprache grundlegend negativ zu beeinflussen. Was können wir daraus für die künstlerische Praxis lernen? Apropos Lernen: Wissen zu teilen, ist ja bekanntlich Bestandteil des Sharing-Gedankens innerhalber der Nachhaltigkeitskonzepte. Gerade an dieser Stelle gilt es erneut, den großen Wert eines lebendigen internationalen Austauschs und internationaler Koproduktionen nicht außer Acht zu lassen, um Inspirationen von einem Winkel der Erde an einem anderen zu neuen lokal passgenauen Konzepten zu verhelfen. Denn sicherlich hat auch die Nachhaltigkeitsdebatte erkannt, dass es keine universellen Lösungskonzepte gibt, die ohne jegliche lokale Einfassung eine lokale Wirkkraft und Zustimmung erfahren werden. Autor
von Christine Fuchs 13 Dez., 2021
Resilienz, Gesundheit und Transformation Christine Fuchs 13. Dezember 2021 Schon immer haben sich Kunst und Kultur mit den Herausforderungen ihrer Zeit beschäftigt, haben wesentliche Antworten auf sie gefunden und die Epochen geprägt. Die größte Herausforderung unserer Zeit ist der Klimawandel. Dieser Beitrag will auf Potenziale von Kunst und Kultur im menschengemachten Klimawandel hinweisen. Kunst und Kultur werden in belastenden Zeiten ganz besonders wichtig: Sie sind wirksame Ressourcen für sozialen Zusammenhalt, Gesundheit und Resilienz. Klimawandel – eine Herausforderung für die Kulturpolitik Der Klimawandel verändert unser Leben. Die Maßnahmen zur Anpassung wie zur Eindämmung des Klimawandels werden grundlegende Veränderungen unserer Lebensweise notwendig machen. Deutschland hat sich zur Einhaltung der Pariser Klimaziele verpflichtet, und die Kulturpolitik wird sich anpassen und neu ausrichten müssen. Dazu zählt die klimataugliche Ertüchtigung der Kultureinrichtungen und Festivals. Es wird auch noch nach Corona weniger Kulturtourismus geben und niedrigere Besucher*innenzahlen, Kulturveranstalter*innen werden sich mit ihren Klimabilanzen beschäftigen, CO2-Vorgaben und Preissteigerungen werden bisherige Kulturformate in Frage stellen und manche kulturellen Vorhaben scheitern lassen. Die Kulturpolitik wird sich zudem mit den sozialen Folgen des Klimawandels zu beschäftigen haben, die der Situation unter Corona in manchen Punkten ähneln wird. Mit den nächsten Hitzewellen, Hochwassern und Waldbränden werden auch Angst und Verunsicherung, Proteste und Polarisierung zunehmen. Die Transformation der Wirtschaft wird eine Herausforderung für Betroffene, die das Scheitern ihrer Lebensentwürfe erleben werden. Und schließlich wird der digitale Wandel die soziale Isolation verstärken und das Leben einsamer machen. Kulturpolitik wird die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse begleiten müssen. Hierfür wird es ein Mehr an Kultur brauchen – kein Weniger. Neue Kulturformate und Programme werden nötig sein, aber auch ein Umdenken und Abschiednehmen von liebgewonnen Zielen und Strategien. Die gute Nachricht ist: Die Künste haben hierfür alles Potenzial. Sie können Menschen und Gesellschaften helfen, Krisen zu überstehen und sich an neue Lebenssituationen anzupassen (Resilienz / Gesundheit). Und sie können sich in der Tradition der Avantgarden mit anderen Lebensbereichen verbinden und diese verändern (Transformation). Potenziale der Künste Resilienz ist die Fähigkeit, Krisen und existentielle Herausforderungen zu bewältigen – beispielsweise, um die Stabilität von Gemeinwesen zu sichern. Alle Kulturen haben in ihren künstlerischen Traditionen Wege entwickelt und weitergegeben, die Zusammenhalt und Gemeinsinn fördern – beispielsweise in der Musik und den literarischen Sprachwerken. Sie haben Rituale und Feste geschaffen, die Stabilität und Freude in das Leben bringen und im gemeinschaftlichen Erleben Sicherheit schaffen. Kunst und Kultur sind entscheidende Resilienzfaktoren. Alle kennen die beruhigende Wirkung von Musik und Rhythmus. Ein Konzertbesuch kann eine innere Kraftquelle über Tage und Wochen sein, ein Ausstellungsbesuch die seelischen Batterien von Kunstfreund*innen aufladen und ein Ballettabend oder eine Clubnacht als Lebenselixier wirken. Kulturerleben gibt Lebenssinn und Lebensfreude, schafft Verbundenheit und dient der Regeneration von Menschen und Gemeinschaften. Gerade im Hinblick auf die mit dem Klimawandel wachsenden Herausforderungen werden die Künste und die Kultur als Resilienz stärkende Ressource immer wichtiger. Kultur ist auch in diesem Sinn Orientierungssystem. Gesundheit hat eine gewisse Nähe zur Resilienz – und zur Kultur. Denn kulturelle Teilhabe fördert die Gesundheit. Die WHO hat 2019 auf die gesundheitsfördernden Wirkungen der Künste hingewiesen und die Gesundheitseinrichtungen dazu aufgerufen, kulturelle Programme aufzunehmen (1). Kulturpolitik kann auf diese Initiativen reagieren und die Kooperation mit dem Gesundheitsbereich suchen. Sie kann sich die potenziell gesundheitsfördernden Wirkungen der Künste bewusst machen, die als heilsame „Nebenwirkungen“ die ansonsten ästhetisch wie verfassungsrechtlich freie Kunst begleiten können. Mittlerweile gibt es umfangreiche medizinische Forschung zu den heilsamen Wirkungen der Künste. So ist beispielsweise nachgewiesen, dass Literatur und kreatives Schreiben die zelluläre Immunaktivität stärken, die Wundheilung nach Operationen beschleunigen und den Immunisierungsschutz nach Impfungen verbessern (2). Empirische Studien belegen, dass Mozarts Klaviersonaten bei der postoperativen Behandlung positiv wirken (3) und bei Gesunden fördert Musikhören die Psychoimmunologie, reduziert Stressfolgen und mindert das Risiko von Herzversagen. Besonders relevant sind Kunst und Kultur im Bereich der psychischen Gesundheit. Die künstlerischen Therapien haben dieses Feld seit den 1980er Jahren fachlich ausdifferenziert und stellen ein Kompendium an heilsamen Methoden zur Verfügung, die auch präventiv wirken, zur Lebenszufriedenheit beitragen sowie Gesundheit und Resilienz fördern. Transformation, Gestaltung und Um-Formung sind Grunddynamiken der Bildenden Kunst (wie auch anderer Disziplinen). In der Tradition der Avantgarden bezieht die Kunst außerkünstlerische Bereiche ein, meist getragen von der Idee, die Kunst ins Leben zu erweitern, sie gesellschaftlich wirksam werden zu lassen. In dem großen Feld der engagierten Kunst finden sich unzählige Lösungen und Modelle zur Transformation unserer Gesellschaft hin zu Nachhaltigkeit, Klimaschutz und Gerechtigkeit. Kunstausstellungen, Biennalen und Kunstkataloge sind voll von künstlerischen Projekten zur nachhaltigen Entwicklung. Ihre praktische Anwendung scheitert jedoch an einem zu engen Kulturfördersystem, das ressortübergreifende Förderung verhindert, statt sie zu fördern. Welche Potenziale in einer anderen und ressortübergreifenden Kulturförderung lägen, hat beispielsweise die Initiative des Fonds für Ästhetik und Nachhaltigkeit FÄN (4) hinreichend dargelegt. Die Chancen für unsere Gesellschaft liegen in zahlreichen Veränderungsimpulsen, die für den kulturellen Wandel und die Transformation wirksam werden können. Anwendungsbereiche zwischen Public-Health-Auftrag und Gesundheitsförderprogrammen Kultureinrichtungen haben einen Public Health-Auftrag – so sehen es zumindest die Stressforscher*innen. Vor allem in Großstädten wirkt der Besuch von Ausstellungen, Konzerten und Theateraufführungen der Vereinsamung und einem ständig wachsenden Stadtstress entgegen (5). Kultureinrichtungen können als Orte der Gesundheitsförderung verstanden und entwickelt werden. Sie geben Menschen Gelegenheit, sich zu erfreuen und Kraft zu schöpfen, Schönheit zu erleben, ihre Seele zu nähren und den Dialog zu üben. Die Resilienz stärkende Wirkung der Kultureinrichtungen wurde im Zuge der Corona-Lockdowns intensiv diskutiert, aber auch praktiziert. Einige Museen nehmen sich bereits dem Thema Gesundheitsförderung an. So gibt es mittlerweile Programme für Krebspatient*innen und Demenzkranke in Museen (Bode-Museum Berlin, Bundeskunsthalle Bonn, Städel Museum Frankfurt) sowie Kulturprogramme zur Suchtprävention (Kulturjahr Sucht in Dresden). Im Rahmen des bayernweiten Netzwerks STADTKULTUR haben bayerische Kommunen mit ihren Kultureinrichtungen Kulturprojekte zur Gesundheitsförderung und Resilienz durchgeführt, die in den deutschen Staatenbericht zur Umsetzung der UNESCO-Konvention aufgenommen und zur Weiterentwicklung empfohlen wurden (6). Kulturelle Bildung nutzt die heilsamen Wirkungen der Künste bereits in der Heilpädagogik und in der Sozialen Arbeit. Die Anwendung ließe sich auf eine allgemeine Gesundheitsförderung erweitern, und bei entsprechender Ausgestaltung der Bildungsangebote lassen sich neue Publikumsschichten erschließen. Die Bedarfe an derartigen Angeboten steigen – aktuell wegen der Corona-Folgen, aber auch für die Burnout- und Suchtprävention, in der allgemeinen Gesundheitsförderung (7) und zur Stärkung der Resilienz. Kulturförderung und Gesundheitsförderung könnten zusammenwirken und neue Formate und Angebote entwickeln. Eine ressortübergreifende Förderung wäre darüber hinaus auch in anderen Lebensbereichen sinnvoll, in denen die Künste Ansätze und Vorhaben in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln und wertvolle Impulse geben. Kulturpolitik sollte sich für mehrperspektivische, ressortübergreifende Fördermodelle und Zusammenarbeit einsetzen (4) – und das möglichst auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Ästhetik der Nachhaltigkeit Vor 20 Jahren hat das legendäre Tutzinger Manifest die Kulturpolitik aufgefordert, die Ästhetik in die Nachhaltigkeitsagenda einzubeziehen. Die Kulturpolitik ist an dieser Herausforderung gescheitert. Sie hat keine eigene Position zur Ökologie gefunden – weder zum Klima noch zur Natur. Warum ist die Ästhetik der Nachhaltigkeit kein Thema der Kulturpolitik geworden? Obwohl viele Künstler*innen und Kulturschaffende sich für Natur und Klima engagieren, wurde die Nachhaltigkeit kein strategisches Konzept, sondern blieb auf Einzelprojekte und Initiativen der Kulturellen Bildung beschränkt. Vielleicht liegt es daran, dass Nachhaltigkeit als ökonomisches Bilanzierungsprinzip beim Kunstschaffen allenfalls ein Werkzeug unter vielen sein kann. Künstlerische Arbeitsweise hat auch mit Fülle, Überfluss oder Verschwendung zu tun. Sie braucht das Experiment, das Scheitern, den erneuten Versuch, den Zweifel. Ob in diesen Prozessen ein Werk glückt, ob es ein großes Werk wird und eine besondere Wirkung entfaltet, das ist alles nicht vorherzusehen. Im künstlerischen Methodenkoffer kann Nachhaltigkeit zwar ein Werkzeug, doch keinesfalls der Maßstab sein. Denn das Wesentliche eines Kunstwerks ist immateriell – nicht materiell. Daher sind Materialverbrauch und CO2-Bilanzen keine Kriterien, die sich in Beziehung zu Inhalt und Qualität von Kunst setzen lassen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Künstler*innen nichts zur Nachhaltigkeit beitragen können. Ganz im Gegenteil! Wie oben gezeigt, liegen die Potenziale der Kunst im Hinblick auf Nachhaltigkeit im Wesentlichen darin, dass sie mit ihren Werken zur Resilienz und Gesundheit der Menschen und Gemeinschaften beitragen. Und sie liegen in den künstlerischen Arbeitsweisen, die mit ästhetischen Mitteln Welt gestalten und damit auch Denk- und Handlungsmuster verändern und zur Transformation in Richtung Nachhaltigkeit beitragen können. Neue Leitmotive Kultur im Klimawandel kommt die Aufgabe zu, sich selbst – also Künste und Kulturen – als Lebenstechnik zu begreifen und ins Spiel zu bringen. Der hier unternommene Versuch, Kunst und Kultur mit Gesundheit und Resilienz zusammenzudenken, ist von dem Wunsch getragen, das Lebendige, die Lebewesen, stärker in den Blick zu nehmen, die Wechselwirkungen zur Umwelt zu beachten und ihnen Raum zu geben. Lebewesen – Menschen zum Beispiel - sind sterblich. Sie können krank und wieder gesund werden. Auch unser Planet ist keine Maschine, sondern ein Organismus. Er wird von Lebewesen bewohnt. Die Erde hat Fieber – und Technik allein wird nicht ausreichen, es wieder zu senken. Da die Klimakrise Folge der rasanten technischen Entwicklung ist und ein Problem nur selten mit den gleichen Mitteln gelöst werden kann, die es hervorgebracht haben – wie Albert Einstein sagte. Auf der Suche nach dem notwendigen Kulturwandel für die „große Transformation“ (8) schlage ich daher vor, über Kulturen der Regeneration und Kulturen des Gesundens nachzudenken. Gesundheit und Resilienz sind Motive, die positiv in die Zukunft weisen. Sie könnten einen gedanklichen Möglichkeitsraum öffnen. Quellen (1) Östlin, Piroska (2019): Lassen sich durch Tanzen Gesundheit und Wohlbefinden verbessern? Link . (2) Schubert, Christian (2019): Bewusstwerdung als Heilung – die Wirkungen künstlerischen Tuns auf das Immunsystem. In: von Spreti, Flora / Matrius, Phillip / Steger, Florian (Hrsg.): KunstTherapie – Wirkung, Handwerk, Praxis (78). Stuttgart: Schattauer. (3) Schubert, Christian (2019): Bewusstwerdung als Heilung – die Wirkungen künstlerischen Tuns auf das Immunsystem. In: von Spreti, Flora / Matrius, Phillip / Steger, Florian (Hrsg.): KunstTherapie – Wirkung, Handwerk, Praxis (82). Stuttgart: Schattauer. (4) Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit – FÄN, Link . (5) Adli, Mazda (2017): Stress and the City. Und warum sie trotzdem gut für uns sind. München: C. Bertelsmann Verlag. (6) Auswärtiges Amt (2020): Dritter Staatenbericht zur Umsetzung der UNESCO-Konvention (22-25), Link . (7) Fuchs, Christine (2020); „Ich mach dich gesund…”: Kulturelle Bildung und Gesundheitsförderung. In: Kulturelle Bildung Online, Link ; Fuchs, Christine (2021) Gesund mit Kunst? – Ein neues Handlungsfeld in der Kulturellen Bildung. Veröffentlichtes Vortragsmanuskript – Lab-Symposium zu Kultur und Gesundheit, Gasteig Kulturstiftung München, Link . (8) Schneidewind, Uwe (2018): Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt am Main: Fischer Verlage. Autorin
von Nicola Bramkamp 06 Dez., 2021
Nicola Bramkamp 6. Dezember 2021 Der Stillstand der Kultur in der Pandemie war ein Schock, er hat viele Künstler*innen existentiell getroffen und das Selbstbewusstsein einer ganzen Szene erschüttert. Schnell wurde ein Hilfsprogramm entwickelt, das diese dramatische Entwicklung abfederte und dessen Weiterführung nun im neuen Koalitionsvertrag verabredet wurde. Es trägt den sprechenden Namen „Neustart Kultur“. Doch wie kann dieser nachhaltig gelingen? Seit 2014 bringen wir bei SAVE THE WORLD Künstler*innen und Wissenschaftler*innen zusammen, um mit den Mitteln der Kunst eine breite Öffentlichkeit für globale Zusammenhänge und komplexe Inhalte zu begeistern. Auf diese Weise entstehen verschiedenste künstlerische Formate, die sich sinnlich, provokant, humorvoll mit den Nachhaltigkeitszielen der UN auseinandersetzen. Seit einigen Jahren fragen wir uns aber: Müssen wir, um glaubwürdig zu sein nicht noch einen Schritt weitergehen? Die ästhetische und inhaltliche Auseinandersetzung auf der Bühne ist wichtig, aber auch die Haltung und der gesamte Prozess dahinter gehört mit in das Paket, und zwar unter sozialen, ökonomischen und ökologischen Aspekten. Neustart Kultur nachhaltig Klar ist, dass unsere Gesellschaft in Gänze klimaneutral werden muss und das möglichst bis 2035. Diese Messlatte kann kein Sektor unterlaufen, auch nicht die Kultur. Die Grundvoraussetzung dafür: Analyse und Reflektion. Wir brauchen belastbare Daten, die uns zeigen, wo die großen Klimakiller im Kulturbereich zu finden sind, um diese dann zu reformieren. Denn: „What you measure you can manage“. Das Pilotprojekt „Klimabilanzierung in Kulturinstitutionen“ (1) der Kulturstiftung des Bundes hat deutlich gemacht, dass die Theater mit ihren Produktionsweisen Teil des Problems sind. Im Schnitt bilanzierten die Häuser 1073 Tonnen Treibhausgasausstoß für 2019. Das entspricht aktuell dem Verbrauch von 224 Menschen pro Jahr (der weltweite Pro-Kopf-Verbrauch liegt bei 4,8 Tonnen). Für das Ziel der Klimaneutralität müssen wir Menschen jedoch unter einer Tonne pro Jahr verbrauchen. Wir müssen handeln, jeder, jetzt! Practice what you preach ist daher die Losung der Stunde. Denn gemessen werden wir nicht nur an dem, was wir auf der Bühne predigen, sondern auch an dem, wie wir uns hinter den Kulissen verhalten. Das Bewusstsein und die Sensibilität dafür nehmen stark zu. Kunst muss Grenzen überschreiten dürfen. Aber Kunst muss sich auch die Frage gefallen lassen, ob es z.B. notwendig und sinnvoll ist, mit einem Bühnenbild aus riesigen, transparenten und extra gefertigten Plastikobjekten auf die Vermüllung der Meere anzuspielen. Vor allem dann, wenn der Regisseur in der Eröffnungsrede explizit die Klimakatastrophe anspricht. So geschehen bei den Salzburger Festspielen. Kulturpolitische Strategien zur ökosozialen Transformation Eine nachhaltige Reform der Theater ist komplex, die Klimabilanzierung hat gezeigt, dass es viele Bereiche gibt, die wir nun reformieren müssen: die Gebäudestruktur, den Material- und Energieverbrauch, die Mobilität der Künstler*innen und Zuschauer sowie die Verknüpfung mit den vielfältigen Bereichen gesellschaftlicher Infrastruktur. Einiges ist in der Reflexionsphase der Pandemie in Bewegung gekommen, aber wir stehen erst am Anfang. In der ersten Arbeitsfassung der vom „Fonds Darstellende Künste“ beauftragten Studie „Förderung von Nachhaltigkeit“ von Maximilian Haas und Sandra Umathum (2) wird deutlich, dass die „politischen Strategien zur ökosozialen Transformation dieser Infrastruktur (…) zumeist weder spezifisch gefördert noch systematisch unterstützt werden. Sie werden vielmehr von engagierten Akteur*innen des Felds umgesetzt, die sich neben ihrer eigentlichen Arbeit in AGs organisieren. Dies ist insofern untragbar, als der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen durch Artikel 20a des Grundgesetzes, das deutsche Klimaschutzgesetz und den European Green Deal als Ziel staatlichen Handelns fest verbürgt ist. Dies muss sich künftig auch in der öffentlichen Förderung von Nachhaltigkeitsinitiativen (…) abbilden.“ Professionalisierung & Orchestrierung der neu entstandenen Initiativen Es ist existentiell notwendig, dass die begonnene Transformation und ihre Akteure ihre Arbeit professionalisieren können und sich deren Engagement so auch strukturell abbilden lässt. Wir brauchen weitere Pilotprojekte, best practice Beispiele und die Unterstützung, Vernetzung und Orchestrierung der vielen neuentstandenen Initiativen. Adrienne Goehler hat eindrücklich erläutert, dass eine nachhaltige Transformation nur gelingen kann, wenn wir kulturpolitisch größer denken und begreifen, „dass die bisherige kurzlebige Kulturproduktion und ihre Fördermodalitäten Nachhaltigkeit in der Kunst verunmöglichen.“ (3) Ökologisch nachhaltige Produktionen sind zeitaufwendiger, geben mehr Geld für Personal und weniger für Materialien aus. „Dies muss sich auch in den Förderrichtlinien und -programmen abbilden: Mag die Sachmittelförderung zum initialen Aufbau nachhaltiger Strukturen sinnvoll sein, sollte der Fokus der Förderung klar auf Personen liegen. Diese müssen freilich auch in Sachen nachhaltiger Produktion informiert, unterstützt, vernetzt und weitergebildet werden. Hierzu sind Angebote wie das Theatre Green Book, das KSB-Pilotprojekt und die Veranstaltungen und Weiterbildungen des Aktionsnetzwerks Nachhaltigkeit vonnöten.“ Auch mit Blick auf die Institutionen ist eine Investition in Personen absolut sinnvoll. In seiner Arbeit „Bühnenbild & Nachhaltigkeit“ zeigt Ralph Zeger (4), dass wir vor allem bei den Materialkreisläufen wichtige Fortschritte machen können, wenn wir die Lager digitalisieren und effektiver verwalten, sich Produktionen untereinander austauschen und Bedarfe abgleichen sowie Werkstattkapazitäten nicht nur singulär nutzen, sondern auch der freien Szene zur Verfügung stellen. Aber wer soll – mit Blick auf die Mehrbelastung durch die Pandemie – diese Arbeit noch zusätzlich leisten können? Zielvereinbarungen mit nachhaltiger Perspektive Wir brauchen Zielvereinbarungen mit der Kulturpolitik. So lange das „schneller, höher weiter“, solange Auslastungszahlen und Einnahmen die entscheidende Maßgabe der Kulturpolitik sind, wird es keine Veränderung geben können. Der Blick nach England und die dortigen Aktivitäten des Art Councils zeigen uns, wie effektiv nachhaltige Kulturförderung gelingen kann. Allerdings haben wir mit unserer föderalen Struktur komplexere Voraussetzungen. „Es bräuchte eine koordinierte Initiative von Bund, Ländern und Kommunen, um tragfähige Nachhaltigkeitskriterien – allgemein, kontextsensibel und fair“ (Haas/Umathum) zu etablieren. Die Pandemie macht ein physisches Treffen in Tutzing aktuell leider unmöglich. Das Nachdenken, der Austausch und der gemeinsame Dialog von Politik, Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft - achtsam und solidarisch geführt - sind wichtiger denn je. Gemeinsam werden wir neue Wege beschreiten und Lösungen finden, davon bin ich überzeugt.  Quellen (1) Vgl. Kulturstiftung des Bundes (2021): Klimabilanzen in Kulturinstitutionen. Link (2) Dem Verweis auf die Arbeitsfassung der Studie stimmten freundlicherweise der „Fonds Darstellende Künste“ und die Autor*innen zu. Link (3) Vgl. hierzu den Blogbeitrag Tutzinger Manifest reloaded von Adrienne Göhler auf dieser Website Link (4) Vgl. zur Abschlussarbeit Bühnenbild und ökologische Nachhaltigkeit in der Weiterbildung Theater- und Musikmanagement an der LMU München und zur Person Ralph Zeger. Link . Autorin
von Sylvia Amann 29 Nov., 2021
Sylvia Amann 29. November 2021 Die ökologische Transformation, der Grüne Deal, der Klimaschutz sind in aller Munde – auch im Kultursektor. Allerdings besteht eine große Divergenz zwischen den zahlreichen und vielfältigen Bekenntnissen zur Ökologie und tatsächlichen Umsetzungsschritten. Wertesystem eines Öko-Kultur-Politik-Systems Aus welchen Bausteinen besteht ein Öko-Kultur-Politik-System ist eine grundlegende Frage zur Entwicklung dieses Politikfeldes. Grundsätzlich unterscheidet sich eine ökologische Kulturpolitik primär nicht von beispielsweise dem Politikfeld Innovation. Ein maßgeblicher Unterschied zu einer ökologischen Kulturpolitik liegt allerdings darin, dass sich die Innovationspolitik im existierenden Wertekanon wie u.a. der Konsumorientierung und der bestehenden Haltung zur Ressourcennutzung bewegt. Die ökologische Kulturpolitik geht darüber hinaus. Sie müsste sich im Klaren werden, welche Aktivitäten eine (allfällige auch intensive) Ressourcennutzung für Gesellschaft und/oder Wirtschaft noch rechtfertigen. Die dahinter schwerer wiegende Frage besteht darin, welche - auch kulturellen und künstlerischen Aktivitäten - eine intensive Ressourcennutzung nicht mehr rechtfertigen und damit allfällig auch nicht mehr von öffentlicher Kulturförderung profitieren sollen bzw. sogar ordnungspolitisch wie beispielsweise die Mobilität eingeschränkt werden sollten. Ressourceneinsatz für alle Handlungsalternativen kritisch beleuchten Die Alternativen zur Mobilität aus der digitalen Welt sind im Hinblick auf Ressourcenverwendung nicht viel schonender (BBC 2020). Und wiegen die Mehrwerte, wie Begegnung, künstlerische Inspiration, interkontinentale Solidarität und Verständnis für globale Zusammengehörigkeit mehr als der verursachte CO2-Ausstoß? Und wie wirken sich diese Entscheidungen auf die kulturellen Rechte und gleichberechtigte Teilhabe sowie den Zugang zu Absatzmärkten für Kreativleistungen weltweit aus? Eine ähnliche Diskussion kann auch im Hinblick auf neue Kulturbauten geführt werden. Argumentiert könnte diesbezüglich auch werden, dass die Architektur im Sinne des ökologischen Bauens gerade auch an Kulturbauten anschaulich darstellen könnte, wie ressourcenminimierende Bauprojekte umgesetzt werden. Die EU-Initiative New European Bauhaus (Europäische Kommission 2021) bewegt sich u.a. auf dieser Argumentationslinie. Argumentationslinien sind aber noch keine wertebasierten Referenzrahmen. Bürger*innen-Kulturpolitik vs. Besucher*innen-Kulturpolitik Teilhabe ist ein weiteres Schlüsselelement für eine erfolgreiche ökologische Kulturpolitik und damit stellt sich die Frage, wen ein solches Politikfeld adressieren soll. Die „traditionelle“ Kulturpolitik spricht in der Regel von Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen. Diesbezüglich wurde umfassend in das sog. Audience Development investiert (u. a. Europäische Kommission 2014). Dieser löbliche Ansatz mit einem primären Fokus auf Besucher*innen scheint aber für eine ökologische Kulturpolitik zu kurz gegriffen. Eine bessere Zielgruppe sind die Bürger*innen bzw. Bewohner*innen eines bestimmten Territoriums und damit ein territorial spezifischer Ansatz, da die ökologische Transformation einen Kulturwandel der sowohl transversal – alle gesellschaftlichen Akteur*innen sind betroffen – als auch ortspezifisch fordert. Kultur für eine erfolgreiche Transformation Ein Wandel ist außerdem niemals eine technische, technologische oder wirtschaftliche Fragestellung allein und muss deshalb kulturell beispielsweise durch Diskurs, aber auch experimentell begleitet werden. Die Kultursektoren und die Kunst sind prädestiniert, mit ihren Mitteln der Ästhetik und des Kulturerbes diesen Kulturwandel zu begleiten. Ein anschauliches Beispiel stellt die Vorplatzgestaltung des Haupteingangs des estnischen Nationalmuseums in Tartu dar (Estonian National Museum Tartu, 2016), die Großteils auf natürliche Wiesen statt dem erwartbaren Rasen setzt. Dieses Beispiel hat sowohl eine ästhetische Dimension und hat das Potenzial alltägliches Handeln zu verändern. Ökologische Kulturpolitik auf lokaler Ebene – ein Praxisbeispiel Ökologische Kulturpolitik müsste sich demnach allen Bürger*innen öffnen. Dafür wären neue Unterstützungsmechanismen notwendig und auch eine neue Art der Governance. Sie müsste dafür sorgen, dass es einen breiten inhaltlichen Diskurs gibt, der für einen Großteil der Bevölkerung zugänglich, erfahrbar und aktiv mitgestaltbar ist. Integrative, cross-sektorale Kultur- und Stadtteilpolitiken könnten u. a. diesbezüglich interessante Referenzansätze für nationale und EU-Kulturpolitik darstellen. Ein diesbezüglich vielversprechendes Modell setzt beispielsweise die Stadt Halandri in Griechenland seit dem Jahr 2020 um, das die Zugänglichmachung eines wichtigen antiken Erbes mit einem partizipativen Ansatz mit der lokalen Bevölkerung im Themenfeld Gemeingut Wasser kombiniert. Stereotypen überwinden und Fokus verbreitern Dieses Aufbrechen von sektoralen Betrachtungsweisen und die massive Intensivierung der cross-sektoralen Zusammenarbeit sind deshalb gerade für eine ökologische Kulturpolitik und die diesbezüglichen Unterstützungsmaßnahmen unerlässlich. Ökologische Kulturpolitik sollte sich weg von eingefahrenen Vorstellungen und Stereotypen bewegen. Dies wird besonders deutlich im Hinblick auf die Natur oder auch den als ökologisch intakt empfundenen sogenannten ländlichen Raum (Amann, Sylvia 2018). Eine neue ökologische Kulturpolitik wäre demnach auch wichtig im Hinblick auf einen Diskurs, der über die technischen Anpassungen hinausgeht. Aktivitäten und Projekte wie Green Events (Bundesministerium für Umwelt 2021), Green Screens (INTERREG EUROPE 2017), Green Museums (NEMO 2021) sind erprobt und diesbezüglich kann man sich auf Referenzpraxen beziehen und rasch einer breiten Umsetzung zuführen. Mensch-Natur-Beziehung als Schwerpunktthema Eine ökologische Kulturpolitik sollte sich darüber hinaus stärker auf die breiteren und grundlegenderen Debatten konzentrieren, wie u. a. auf die Mensch-Natur-Beziehung. Gerne wird die Natur in Opposition zur Kultur gesetzt oder andersherum argumentiert, das Ideal der intakten Natur beschworen, die durch menschliche Eingriffe und Aktivitäten nicht weiter zerstört (oder gestaltet) werden darf. Interessante weiterführende Überlegungen des französischen Philosophen Baptiste Morizot umfassen das Selbstverständnis des Menschen, der sich wiederum als integraler Teil der Natur begreifen sollte. Aus der Opposition Mensch-Natur würde dadurch ein „Wir“ (wieder) entstehen (Morizot, Baptiste 2020). Ökologische Alltagskultur unterstützen – eine Bildungsaufgabe Ein weiteres thematisches Feld mit hoher Relevanz für eine ökologische Kulturpolitik ist der gesamte Bereich der Alltagskultur. Beispielsweise das ÖKOLOG-Netzwerk des österreichischen Bildungsministeriums (Bundesministerium für Bildung 2021) möchte Schulen und Lehrer*innen auf ihrem Weg in eine neue ökologische Alltagskultur unterstützen - eine sehr positive Initiative, da sie Schüler*innen die Ökologie als transversale Aufgabe in allen Lebensbereichen vermittelt. Die Bildungsangebote der Initiative decken breit die verschiedensten ökologischen Fragestellungen und Ansatzpunkte, die in Schulen umgesetzt werden können, ab. Die Verknüpfung mit der kulturellen und künstlerischen Dimension des Wandels bleibt allerdings noch sehr eingeschränkt in den Angeboten der Plattform sichtbar. Leitsätze einer ökologischen Kulturpolitik Eine neue Kulturpolitik für das 21. Jahrhundert muss eine ökologische Kulturpolitik sein. Alle Politikfelder müssen den ökologischen Erfordernissen und den Rahmenbedingungen durch den Klimawandel angepasst werden. Das betrifft das gesamte Kultur-Öko-System. Und wie die US-amerikanische Autorin Naomi Klein bereits 2015 treffend formuliert hatte „This changes everything“. Für Entscheider*innen im Kulturbereich würde es demnach zu kurz greifen beispielsweise ein einziges Förderprogramm für grünen Wandel aufzulegen, sondern es müssen das gesamte Fördersystem und alle Unterstützungsmaßnahmen ökologischen Anforderungen angepasst werden. Fünf Leitsätze sollten das diesbezügliche Handeln der Kulturpolitik und -verwaltung bestimmen: Werte Ökologische Kulturpolitik stellt den existierenden Wertekanon in Frage. Sie ist deshalb ein politisches Unterfangen und verlangt von Kulturverwaltungen und -politik Bereitschaft für Visionen und Experiment.. Breite Ökologische Kulturpolitik muss sich den Bürger*innen in ihrer Gesamtheit stellen, um zum notwendigen Wandel beizutragen. Die Orientierung auf Besucher*innen greift zu kurz. Das territoriale Umfeld ist wesentlich und maßgeblich. Inhalte Ökologische Kulturpolitik geht über einen Technologiewandel hinaus. Sie hat eine zentrale Rolle, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Debatten und demokratischen Zugang zu ökologisch-relevanten Themen ermöglichen. Natur Ökologische Kulturpolitik sollte zentrale Themen für die Ökologisierung aufgreifen. Dazu gehört der integrative Ansatz der Mensch-Natur-Beziehung und die Überwindung diesbezüglicher stereotypischer Argumentarien und Handlungsweisen. Jetzt Ökologische Kulturpolitik muss umgehend handeln. Die Umsetzung beinhaltet die Ökologisierung der Kultur-Öko-Systeme mit technischen Vorgaben, modernisierte Förderprogrammen und Unterstützungsmaßnahmen und eine Vorbildfunktion der Kulturverwaltung.  Quellen Amann, Sylvia (2018): Nur scheinbar Freiraum: Realitäten ländlicher Räume und ein Plädoyer für positive Veränderung mit Kulturarbeit. In: Wissensplattform Kulturelle Bildung Online: Link (letzter Zugriff am: 14.09.2021). BBC (2020): Why your internet habits are not as clean as you think. Link (letzter Zugriff am: 18.08.2021) Bundesministerium für Bildung (2021): ÖKOLOG-Netzwerk – Lehrgang Umweltpädagogik und Lebensqualität 2021-2023. Link (letzter Zugriff am: 14.09.2021) Bundesministerium für Umwelt (2021): Österreichisches Umweltzeichen für Green Meetings und Green Events. Link (letzter Zugriff am: 14.09.2021) Estonian National Museum Tartu (2016): Estonian National Museum, Link (Letzter Zugriff am: 18.08.2021) Europäische Kommission (2021): New European Bauhaus. Link (Letzter Zugriff am: 17.08.2021) Europäische Kommission (2014): Förderprogramm Creative Europe, Brüssel Interreg Europe (2017): Green Screen - Greening the creative industries: improving policy practices for the European Audiovisual industry. Link (letzter Zugriff: 14.09.2021) Klein, Naomi (2015): This changes everything – Capitalism vs The Climate, New York: Simon + Schuster Morizot, Baptiste (2020): Manière d‘être vivant, Arles: Actes Sud NEMO (2021): Green Museum Podcast. Link . (letzter Zugriff am: 14.09.2021) Dieser Artikel wurde in seiner Langform im Oktober 2021 auf KUBI-Online erstpubliziert. Autorin
von Christina Madenach 22 Nov., 2021
Die Ohnmacht in konstruktiven Zorn verwandeln Christina Madenach 22. November 2021 Vor zwanzig Jahren, mit 13, trat ich der Münchner Jugendgruppe von Greenpeace bei, weil ich mitbekommen hatte, dass sich etwas ändern musste, wenn wir nicht diesen Planeten und damit auch unsere Lebensgrundlage zerstören wollten. Was auch damals bereits längst bekannt war, ist nach wie vor brandaktuell. Die Situation hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht verbessert, sie hat sich sogar verschlechtert: Wir fahren schnellere und größere Autos, kaufen häufiger und aufwendigere technische Geräte wie beispielsweise Handys und haben einen mit jedem Jahr erhöhten Energieverbrauch – um nur einige wenige Auslöser für den Klimawandel zu nennen. Wenn Fridays for Future in diesen Tagen noch einmal betonen, dass JETZT etwas geschehen muss, um das 1,5 Grad-Ziel einhalten zu können, aber nichts oder zu wenig geschieht, oder wenn ich meinen ökologischen Fußabdruck berechnen lasse und wir alleine durch den Sockelbetrag, der durch die bereitgestellte Infrastruktur in Deutschland entsteht, schon beinahe den ganzen Planeten aufbrauchen würden – hätten alle Menschen diesen Fußabdruck –, löst das in mir ein Gefühl der Ohnmacht aus. „How dare you!“ und „Sie sollten sich schämen.“ Ohnmacht ist ein Gefühl der Machtlosigkeit und Hilflosigkeit, das in Frustration und Wut münden kann. Der Rechtsruck in unserer Gesellschaft zeugt davon. In der Psychologie wird das Gefühl der Wut zunächst neutral bewertet, da es sich bei ihr in Teilen auch um eine sinnvolle Regung handelt. Positiver aufgeladen noch ist der Begriff des Zorns, der distanzierter als die Wut definiert wird und sich auf allgemeine als ungerecht empfundene Umstände beziehen kann (1). Die Verknüpfung von Zorn und Engagement werden sichtbar in dem bereits in die Geschichte eingegangenen emotionalen Ausruf Greta Thunbergs vor dem UN-Klimagipfel in New York 2019: „How dare you!“ (2) oder in der Äußerung der Klimaaktivistin Lauren MacDonald auf der erst kürzlich stattgefundenen Ted Conference in Edinburgh gegenüber dem Shell-Chef: „Sie sollten sich schämen.“ (3) Auch ich würde gerne meine Ohnmacht in Zorn verwandeln, um meine Handlungsfähigkeit wiederherzustellen und aktiv für einen politischen und kulturellen Wandel einzutreten. Sich Gehör verschaffen Im selben Jahr, in dem ich mich bei Greenpeace für den Erhalt der Umwelt zu engagieren begann, rief das Tutzinger Manifest zur Einbeziehung der Kultur bei der Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung auf. Im selben Maße wie sich die Gesamtsituation verschlechtert hat, haben sich die Forderungen von vor zwanzig Jahre zugespitzt – im Bereich des Klimas aktuell formuliert u.a. von Fridays for Future, unterlegt und unterstützt von den Forschungserbergebnissen und Erkenntnissen zahlreicher Wissenschaftler*innen. Einer Einbeziehung der kulturellen Möglichkeiten für eine neue Zukunftsperspektive liegen auch nachhaltige Strukturen im Kulturbetrieb selbst zu Grunde, da diese erstens essentiell angesichts der globalen klimatischen Veränderungen sind, zweitens die Voraussetzung für verbesserte Rahmenbedingungen der Kulturarbeit bilden und drittens vorbildhaft für andere Branchen gelten können. Der weite Begriff der Nachhaltigkeit – die Strukturen des Kulturbetriebs betreffend – umspannt u.a. die Klimaneutralität von Kulturveranstaltungen und Kulturinstitutionen; faire Arbeitsbedingungen und Bezahlung; Förderstrukturen, die auf langfristige Projekte zielen und nicht auf kurzlebige Eventkultur; Förderung von Inklusion und Teilhabe; Gleichberechtigung in Bezug auf race, class, gender, sexual orientation, age, disability. Sowohl in der Klima- als auch in der Kulturpolitik liegen die richtigen Forderungen und Warnungen vor. Das Problem ist, dass diese anscheinend entweder von zu wenigen gehört oder dass sie gehört und dann wieder vergessen oder verdrängt werden. Ziel wäre es also, diesen Forderungen noch mehr Gehör zu verschaffen – sowohl auf politischer Ebene (nur hier kann strukturell etwas geändert werden) als auch auf persönlicher Ebene (denn hierbei handelt es sich um die Wähler*innen, die die Zusammensetzung der Politik bestimmen). Der Klimawandel als „Aggregatzustand unseres Seins“ Die Äußerung: „Dieses Buch/Musikstück/Bild hat mich nachhaltig berührt“ weist auf eine Qualität des Kunstwerks hin und auf den emotionalen Zustand, den es ausgelöst hat – nicht jedoch auf den Inhalt des Werks. Die Äußerung könnte sich auf einen Klima-Thriller beziehen oder auf eine Performance, die eines oder mehrere der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele zum Thema hat. Sie könnte sich auch auf eine Kunstform beziehen, die sich im weitesten Sinne mit Natur beschäftigt – wie beispielsweise das immer populärer werdende Nature Writing (4) oder Staging Nature-Projekte (5) –, oder auf Kunst, die auf keine Weise offensichtlich politisch ist. Auf die Frage hin, inwiefern sich die ökologische Krise auf die zeitgenössische Literatur niederschlägt, wies Bernd Ulrich in der Zeit daraufhin, dass es sich beim Klima überhaupt nicht um ein „Thema“, sondern vielmehr um einen „neuen Aggregatzustand unseres Seins“ handele (6). Selbst wenn sich Kunst nicht ausdrücklich mit den Themen unserer Zeit beschäftigt, schwingt der gesellschaftliche und politische Entstehungs- und Rezeptionskontext – der „Aggregatzustand unseres Seins“ – immer subtil mit. Eines meiner Lieblingsbücher – „Letzte Geschichten“ (7) von der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk – setzt sich mit dem Sterben auseinander. Wie sich die Menschen gegenüber dem Tod verhalten, welche Stellung er im Leben einnimmt und was das wiederum über unsere Sicht auf das Leben aussagt – das Verhandeln dieser Themen in der Kunst dockt unmittelbar an Fragen an, in denen wir uns wiedererkennen können, und ist gerade deshalb höchst politisch. Wenn die Protagonistin bei Tokarczuk noch wochenlang mit dem Leichnam ihres verstorbenen Mannes spricht, wirken die Bedächtigkeit und die Rhythmik dieser Handlung in mir fort und verändern dadurch meinen Blick auch auf andere Kontexte. JETZT handeln Das Tutzinger Manifest von 2001 fordert dazu auf, die Kultur im Zusammenspiel unterschiedlicher Disziplinen für eine zukunftsfähige Entwicklung als grundlegend zu begreifen. Eine Besonderheit der Kunst liegt darin, Menschen durch Geschichten und Bilder mehr als einfach nur Sachverhalte zu vermitteln. Um Tokarczuk aus einem Interview mit der Deutschen Welle zu zitieren: „Ich schreibe vielmehr Bücher, um die Köpfe der Menschen zu öffnen, um neue Sichtweisen, neue Perspektiven zu zeigen. Dass das, was sie als offensichtlich ansehen, nicht so offensichtlich ist. Dass man eine triviale Situation aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann und plötzlich andere Bedeutungen und Ebenen enthüllt“ (8). Und dafür findet die Kunst immer wieder neue und andere Formen des Ausdrucks, sodass Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungshintergründen Zugang finden können. Weil die Kunst sich auf ihre Weise immer mit den Fragen des Menschseins auseinandersetzt, weil sie unseren Blick darauf hinterfragt und öffnet und weil dies auch auf einer emotionalen Ebene geschieht und deshalb nachhaltig wirken kann, ist die Kunst unabdingbarer Teil der Auseinandersetzung mit unseren Lebensbedingungen und dem Umgang damit. Und noch mehr: Sie kann Auslöserin von Taten sein, denn sie hat das Potenzial, uns wachzurütteln und unsere Ohnmacht angesichts der desaströsen Klimasituation zu überwinden und in einen Zorn zu verwandeln, der über bloße Forderungen und Warnungen hinausgeht – in einen Zorn, der zu einem Handeln JETZT führt. Quellen (1) Siehe dazu: Stangl, Werner (2021): Stichwort: „Zorn“, in: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik ( Link ). (2) Siehe dazu: Diez, Georg: Greta Thunbergs „How dare you“. Angst und Endlichkeit, in: taz (28.09.2019, Link ). (3) Siehe dazu: Kreye, Andrian: Ted Conference. Tränen der Wut, in: Süddeutsche Zeitung (18.10.2021, Link ). (4) Siehe dazu: Matthes & Seitz Berlin: Über den Deutschen Preis für Nature Writing ( Link ). (5) Siehe dazu: Rausch, Tobias: Schauspiele jenseits des Menschen, in: nachtkritik.de (16.10.2019, Link ). (6) Ulrich, Bernd: Literatur und Klimawandel. Warum, zur Hölle? In: Zeit (20.10.2021, Link ). (7) Siehe dazu: Tokarczuk, Olga (2006): Letzte Geschichten, Zürich: Kampa Verlag ( Link ). (8) Tokarczuk, Olga: „Literatur ist zum Denken da“ im Interview mit Michal Gostkiewicz, in: Deutsche Welle (11.10.2019, Link ). Autorin
von Raoul Koether 15 Nov., 2021
Die Legitimationsfrage einer nachhaltigkeitsorientierten Kulturfinanzierung Raoul Koether 15. November 2021 Auf dem Weg „die Menschheit von der Tyrannei der Armut zu befreien und unseren Planeten zu heilen und zu erhalten“, wie es die UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (UN, 2015) pathetisch formuliert, haben wir annähernd die Halbzeit seit ihrer Beschlussfassung 2015 erreicht. Ein nüchterner Blick, sowohl in globaler, als auch europäischer Hinsicht zeigt, der Hälfte der Strecke entspricht das bei weitem nicht. Durch die Auswirkungen der Klimakrise, konkret erlebbar vor Ort und die globale Corona-Pandemie haben wir auch in der breiten Wahrnehmung einen Wendepunkt erreicht. Vielen ist klar geworden, dass es ein einfaches „Weiter-so“ nicht geben kann. Was aber kann Kultur zur Veränderung beitragen? Kultur selbst ist keines der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele, aber das Fundament für viele der Programmpunkte. Die Direktorin für Kreativität im kulturellen Sektor der UNESCO, Jyoti Hosagrahar, hat 2017 neun Nachhaltigkeitsziele identifiziert, für deren Erreichung Kunst und Kultur eine zentrale Rolle spielen (Hosagrahar, 2017). Ohne eine kulturelle Basis können diese und auch die acht weiteren Ziele vermutlich nicht im gesteckten Zeitfenster erreicht werden. Nun hat Corona gerade Kunst und Kultur gebeutelt, wie kaum ein Ereignis in der Nachkriegsgeschichte. Auch wenn hoffentlich das Ärgste bald vorbei sein wird, und Kulturveranstaltungen langsam wieder starten: für die Kultur wird es noch lange nicht vorbei sein. Die Pandemie hat tiefe Löcher in den staatlichen Kassen hinterlassen und die Kulturhaushalte werden einen prominenten Platz in den Streichrunden der Kämmer:innen und Finanzminister:innen bekommen. Die Sparrunden haben begonnen In München hat es bereits das renommierte Stadttheater, die Münchner Kammerspiele getroffen. Sie müssen in den kommenden zwei Jahren fast 1,2 Millionen Euro einsparen bzw. aus den Rücklagen finanzieren. Der Geschäftsführer des Bühnenvereins Marc Grandmontagne befürchtet, dass „der Fall der Kammerspiele im verhältnismäßig wohlhabenden München (…) eine Vorbildwirkung für viele andere Häuser in deutschen Kommunen haben“ könnte (DLF, 2021). Es wird klar, in welche Richtung die Diskussion in der Konkurrenz von Kultur- und Haushaltspolitik gehen wird und es stellt sich wieder einmal die große Legitimationsfrage, warum und wofür öffentliche Haushalte Geld für Kultur springen lassen sollen, wenn es offensichtlich doch viel drängendere Probleme gibt. Einem bekannten on-dit zufolge legen schließlich die Münchner Steuerzahler:innen jeden Abend, egal, ob eine Aufführung stattfindet oder nicht, bildlich einen Hundert-Euro-Schein auf jeden Platz des Schauspielhauses. Wofür? Die Antworten darauf schwanken meist zwischen einem unreflektierten „weil es schon immer so war“ und abstrakten Beschwörungen der Bedeutung von Kunst und Kultur für die Gesellschaft. Die grüne Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth aus Augsburg äußerte sich in einem WDR-Podcast z.B. so: „Musik, Literatur, Theater, Museen und Clubs sind Grundnahrungsmittel in einer Demokratie und nicht Sahnehäubchen, die man sich nur in guten Zeiten leisten kann.“ (WDR, 2021). Die Beschwörung der demokratiebildenden und damit quasi systemrelevanten Bedeutung von Kunst und Kultur ist ebenso nett, wie in den Verhandlungen mit Haushälter:innen nutzlos, wie sich immer wieder gezeigt hat und wieder zeigen wird. Der Hamburgische Senator für Kultur und Medien, Carsten Brosda (SPD) hat Recht, wenn er anmerkt: „Systemrelevant ist ein doofer Begriff. Er sagt, dass ich eine Funktion im Getriebe ausübe. Dabei ist Kultur die Arbeit am Sinn unseres Zusammenlebens. Ohne Kultur kann ich gar nicht begründen, warum wir unsere Gesellschaft so leben, wie wir sie leben.“ (Brosda, 2020). Damit räumt er zum einen das beliebte „Grundnahrungsmittel-Argument“ ab, denn in der Tat bringen Kunst und Kultur, außer für die im Kulturbetrieb Beschäftigten, kein Essen auf den Tisch, zum anderen eröffnet er eine Perspektive, die die Legitimationsfrage von Kultursubventionen beantworten könnte. Kultur ist mehr als Seelennahrung In seinen „Gefängnisheften“ aus den Jahren 1929 bis 1935 schreibt der marxistische Philosoph und Schriftsteller Antonio Gramsci: „Die Eroberung der kulturellen Macht erfolgt vor der Übernahme der politischen Macht“ (Gramsci, 1991). Dieser Satz fasst seine Forderung nach kultureller Hegemonie zusammen, wonach im politischen Kontext Kunst und Kultur als Produzenten zustimmungsfähiger Ideen die Grundlage für die Organisation unseres Zusammenlebens und einer wünschenswerten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung geben. Das gibt Kunst und Kultur eine zentrale Rolle im politischen Diskurs, die weit über die „Erbauung“, „Unterhaltung“ und „Seelennahrung“ für die Menschen hinaus geht. Und es rechtfertigt, gerade auch für die progressiven Kräfte in der Gesellschaft die Notwendigkeit, Kultur finanziell zu fördern und damit einen Impact auf einen gesellschaftlichen Wandel auszulösen. Machen wir uns nichts vor, während politisch progressive Kräfte in unserer Gesellschaft noch immer am „Sahnehäubchen Kultur“ laborieren, nutzen konservative, libertäre und nationalistische Kräfte, teilweise planmäßig, teilweise intuitiv, spätestens seit Beginn der 1980er Jahre die Kraft der Kultur zu einer politischen Diskursverschiebung. Besonders aktiv sind in dieser Hinsicht in den letzten Jahren insbesondere rechtsextreme Kräfte, wie die Identitäre Bewegung, aber auch Klimaleugner:innen, die in einer Art Querfrontstrategie den Aufbau einer kulturellen Hegemonialstellung aufzubauen versuchen (Raulf, 2017) und Gramsci pervertieren. Viele Linke und Progressive nehmen eine aktive Kulturpolitik, die in der Wechselwirkung von Kultur, Wissenschaft und Politik entstehen muss, als integralen Bestandteil des Wettbewerbs um die Zukunft unserer Gesellschaft nicht wirklich ernst. Sie schicken aus den Fraktionen der Parlamente und Räte ihre „Kulturkasperl“, wenn es um kulturelle Projekte, Theater, Museen usw. geht, die dann folgerichtig auf verlorenem Posten kämpfen, wenn Zielkonflikte um Haushaltsmittel entstehen. Was dabei verloren geht, ist, dass die natürlichen Verbündeten einer progressiven, nachhaltigkeitsorientierten Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik in der Kultur gestärkt werden, ohne die der notwendige Systemwechsel nicht gelingen kann. Die Karten neu mischen Unser auf Marktinteressen, Gewinnmaximierung und Besitzstandswahrung ausgerichtetes System ist am Ende angekommen. Es geht also darum, die Karten neu zu mischen, oder, wie Franklin D. Roosevelt es in den 1930er Jahren genannt hat, einen „New Deal“, der einen, aus einer schweren Krise geborenen Paradigmenwechsel in der Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte der Vereinigten Staaten darstellte (Adams, 2007). Wenn wir heute, ausgehend von unserer jetzigen globalen sozialen und ökologischen Krise, zurecht anmahnen, unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sozial gerechter, partizipativer, nachhaltiger, klimafreundlicher und internationaler zu machen, kurz einen Green New Deal (Rizzo, 2019) einfordern, stehen wir vor einer ähnlichen Ausgangslage. Blicken wir zurück auf Roosevelts New Deal, war ein Kernelement auch ein „Cultural New Deal“, bestehend aus verschiedenen Bausteinen, die unterschiedliche Zwecke verfolgten (Adams/Goldbard, 1995). Es war zwar einerseits ein Beschäftigungsprogramm für hungernde Künstler:innen und diente einer Öffnung von Kunst und Kultur für breitere Bevölkerungsschichten. Der Cultural New Deal hatte auch einen kommunikativ-politischen Aspekt. Er sollte den sozialen New Deal im Bewusstsein der Bevölkerung orchestrieren und verankern. Insofern wäre es stringent und sinnvoll auch einen Green New Deal entsprechend zu begleiten, so wie es beispielsweise der Kulturforscher Christian Steinau in einem Konzept eines „Cultural Green Deals“ vorschlägt (Steinau, 2020). An anderer Stelle seiner „Gefängnishefte“ schreibt Antonio Gramsci: „Die Krise besteht gerade eben darin, dass das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann“ (Gramsci, 1977). Wie können wir also zu Geburtshelfern des Neuen werden? Die Perspektive ändern Ein Kernelement ist in meinen Augen, die Perspektive auf Kultursubventionen zu verändern. Subvention, abgeleitet aus dem lateinischen „subvenire“ bedeutet jemandem „zur Hilfe kommen“. Der Begriff Kultursubvention wird meist aber so verstanden, dass der Staat der Kunst und Kultur mit Geld zur Hilfe kommt. Der Perspektivwechsel bedeutet, dass Kunst und Kultur den grundlegenden gesellschaftspolitischen Veränderungen in Richtung Nachhaltigkeitsziele zur Hilfe kommen müssen, damit sie gelingen können. Dafür muss der Weg bereitet werden, indem den strategischen Bündnispartnern dieser Veränderungen aus dem Kulturbereich eine gut ausgestattete Wirkungsgrundlage gegeben wird. Wer das erkennt, kann als Progressive:r nicht mehr ernsthaft über Streichungen im Kulturetat nachdenken. Quellen Adams D., Goldbard, A. (1995): New Deal Cultural Programs: Experiments in Cultural Democracy. Adapted from a previously unpublished manuscript entitled Cultural Democracy, written by the authors in 1986. Link (30.08.2021) Adams W.P. (2007): Die USA im 20. Jahrhundert. 2. Auflage. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München, S. 173. Brosda, C. (2020) [Twitter, @CarstenBrosda], 14.05.: Link (17.08.2021) DLF [Deutschlandfunk] (2021), 28.07.: Weniger Geld für Münchner Kammerspiele: Lin k (17.08.2021) Gramsci, A. (1991): Marxismus und Kultur. Ideologie, Alltag, Literatur. 3. Auflage. VSA-Verlag, Hamburg. Gramsci, A. (1977): Quaderni del carcere. Edizione critica dell'Istituto Gramsci (vol. 1°). Einaudi, Torino. S. 311. Übersetzung des Verfassers Hosagrahar, J. (2017): Culture: at the heart of SDGs. In: The UNESCO Courier, No.1/2017, S. 12f. Raulf, S. (2017): Sprache und Kultur als Strategie der Neuen Rechten zur Erlangung kultureller Hegemonie. Landeszentrale für Politische Bildung des Landes Sachsen-Anhalt/Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Campus Publik – Schriften zur Politischen Bildung), Halle. Link (17.08.2021) Rizzo, S. (2019) 11.02.: What’s actually in the ‘Green New Deal’ from Democrats? Wall Street Journal. Link (30.08.2021) Steinau, C. (2020) 01.06.: Von „Kultur für Alle“ zum Cultural Green Deal: Über neue Möglichkeiten sozialdemokratischer Kulturpolitik. Link (30.08.2021) UN [United Nations] (2015) 25.09.: Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development. Resolution of the General Assembly No. A/RES/70/1 WDR [Westdeutscher Rundfunk] (2021), 15.04.: COSMO Der Soundtrack von... Claudia Roth - der Podcast. Link (17.08.2021) Autor
von Martin Held 11 Nov., 2021
Die kulturelle Dimension der Nachhaltigkeitstransformation Martin Held 11. November 2021 Eine sozial-ökologische Transformation steht an. Tiefgreifende Veränderungen sind dringlich auf den Weg zu bringen, um von einer noch immer dominant nicht-nachhaltigen Entwicklung in Richtung einer nachhaltigeren Entwicklung umzusteuern. Diese Einsicht greift um sich, nicht zuletzt aufgrund der bereits spürbar zunehmenden Wetterextreme als Folge des Klimawandels. Macht’s die Technik? Das Offenkundige steht bisher im Mittelpunkt: Das Energiesystem muss 100 Prozent erneuerbar werden, die fossilen Energieträger entsprechend zurückgefahren werden. Bei der Mobilitätswende wird die Antriebswende bei den Akteuren wie der Automobilwirtschaft ernsthaft als notwendig gesehen, mit Digitalisierung angereichert. Technologische Fragen dominieren. Debatten gehen über ökonomische und andere Instrumente. Wenn es gut geht, kommen Gerechtigkeitsfragen zumindest etwas mit in den Blick. Das Versprechen von BAU light, wie wir das nennen, ist vorherrschend: Business as usual mit möglichst wenig Änderungen. Die Technik macht’s. So die Vorstellung. Schaut man zurück, dann ist offenkundig: Das ist nur ein Teil. Derartig grundlegende Umwälzungen sind immer zugleich tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen. Grundlegende Transformationen wie etwa der Übergang zu den fossilen Energien und Basisinnovationen wie Dampfmaschine, Eisenbahnen, Verbrennungsmotor und viele mehr haben in alle Lebensbereiche eingegriffen, veränderten Alltagskulturen ebenso wie vorherrschende kulturelle Frames: schneller, mehr, weiter wurden zu übergeordneten Leitmotiven der erfolgreichen und zugleich nicht-nachhaltigen Entwicklung. Die anstehenden Transformationen in der Energie-, Mobilitäts-, Rohstoff-, Agrarwende – um nur einige der wichtigsten Bausteine der Nachhaltigkeitstransformation zu nennen – werden die Kultur nicht weniger weitreichend ändern. Eine rein technologische Veränderung geht sich nicht aus. Kultur als genuiner Bestandteil von Nachhaltigkeitstransformation? Mit der auf der UN Konferenz 1992 in Rio verabschiedeten Agenda 21 wurde ein kurzes Zeitfenster genutzt, um eine Umorientierung in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung weltweit verbindlich zu machen. Wie es im „Tutzinger Manifest für die Stärkung der kulturell-ästhetischen Dimension Nachhaltiger Entwicklung“ formuliert wurde: die „Agenda 21 wurde als Strategie für eine zukunftsfähige Entwicklung [für] das Zusammenspiel von Ökonomie, Ökologie und Sozialem ausgearbeitet.“ Das begünstigte in der Folgezeit eine additive Vorstellung von den drei Säulen. Die Agenda war einerseits ein Durchbruch – ökologische und soziale Fragen gewannen an Bedeutung, sie wurden zusammen mit der Ökonomie zu Zielgrößen. Zugleich gelang es jedoch nicht, die kulturelle Dimension einer Transformation in Richtung einer nachhaltigeren Entwicklung als genuinen Bestandteil dieser Transformation zu etablieren. Zu quer lag diese Dimension zur Vorstellung der drei Säulen. Kulturelle Fragen einschließlich von Gestaltungsfragen und Ästhetik kam in dieser 3-Säulen-Welt der Agenda 21 damit eine Rolle zu, wie sie im Bau häufig anzutreffen ist: Kunst am Bau verstanden als schmückendes Beiwerk zu einem technologisch ausgerichteten und ökonomisch profitablen Bauwerk, im Nachhinein dazu kommend. Das Tutzinger Manifest, das aus der Tagung „Ästhetik der Nachhaltigkeit“ (April 2001) der Evangelischen Akademie Tutzing in Kooperation mit der Kulturpolitischen Gesellschaft hervor gegangen ist, brachte das Offensichtliche auf den Punkt: Die Nachhaltigkeitstransformation ist zugleich eine kulturelle Herausforderung – nichts weniger als „grundlegende Revisionen überkommener Normen, Werte und Praktiken in allen Bereichen“ sind gefordert. „Nachhaltigkeit braucht und produziert Kultur“. Das Manifest war, um das mit einer Metaphorik zu umschreiben, eine Art Archaeopteryx: Es zeigte schon eine Art Fliegen, aber es war noch kein ausgebildeter Vogel. Kulturelle Aufgaben Heute, 20 Jahre später, können wir ausgehend von diesem Blick zurück nach vorn weiter gehen, die übergreifende Bedeutung der kulturellen Dimension der anstehenden Umwälzungen aufzeigen, in allen ihren Richtungen, Ausprägungen und Facetten: für Kultureinrichtungen und Kunstwirtschaft in ihrem Selbstverständnis und für ihre Aktivitäten; für ihre Rolle in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung der transformativen Schritte; für die Rolle der Kultur und Kunst in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Schritte des Umsteuerns in allen Lebensbereichen. Das schließt Gestaltung im engeren Sinn angemessenen Designs von Produkten und Infrastrukturen ein, ebenso Fragen der Gestaltung des öffentlichen Raums, eine Vermittlung der Abkehr von immer mehr – immer mehr Ressourcenaneignung, immer mehr Energieumsatz, immer mehr von allem. Es umfasst die kreative Auseinandersetzung mit dem Unterlassen, Raum lassen für Entwicklungen etwa von Naturräumen ebenso wie von Potenzialen, in denen sich Kinder autonom und nicht dauerkontrolliert entfalten können. Nehmen wir als einfaches Beispiel die Aufgabe der kreativen Weiterentwicklung von soundscapes : In der fossil geprägten Perspektive wird der Eindruck vermittelt, das Problem von Elektrofahrzeugen sei ihre mangelnde Hörbarkeit – echt gefährlich sei das. Die krankmachenden, fossil getriebenen Lärmlandschaften dienen als Referenz. Das Neue, Positive wird vorab abgewertet. Das gilt es zu überwinden, hinter uns zu lassen. Ein Umgang mit den Ängsten vor den katastrophalen Folgen des verspäteten Handelns, Stichwort halbherziges und verspätetes Umsteuern der Klimapolitik, ist eine extrem herausfordernde kulturelle Aufgabe. Die Gestaltung von Lebensstilen, Stadtvierteln als lebenswerte, attraktive Umfelder, Baustile, Stadtstrukturen, die im wahren Wortsinn eine auf Dauer mögliche, zukunftsfähige Entwicklung fördern – das und noch viel mehr sind alles kulturelle Aufgaben der Nachhaltigkeitstransformation. Autor
von Ulli Sommer 08 Nov., 2021
Ulli Sommer 8. November 2021 Wie können wir so leben, arbeiten und wirtschaften, dass auch künftige Generationen noch eine intakte Umwelt und eine lebenswerte Umgebung vorfinden? Wie müssen wir in Zukunft unseren Umgang mit Ressourcen gestalten, um die Entwicklungschancen in anderen Regionen der Welt nicht zu gefährden? Wie kann es gelingen, Menschen weltweit und ein Leben lang Zugang zu hochwertiger, inklusiver und chancengerechter Bildung zu ermöglichen? Wie wird das Ziel Nachhaltigkeit auch für nicht privilegierte gesellschaftliche Milieus überzeugend? All dies zählt zu den großen Fragen der Nachhaltigkeitsdebatte. Welchen Beitrag kann kulturelle Bildung – verstanden als Allgemeinbildung im Medium der Künste (Rat für Kulturelle Bildung 2013) – für den Nachhaltigkeitsdiskurs und für nachhaltige Entwicklung leisten? Wo liegen ihre spezifischen Zugänge und Wirkpotentiale in diesem Kontext? Kann kulturelle Bildung Transformationsprozesse im Sinne einer nachhaltigen und zugleich lebenswerten Gestaltung der Welt anstoßen und beflügeln? Und wenn: Wo und wie tut sie dies? Und nicht zuletzt: Wie können sich kulturelle Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung wechselseitig ergänzen und beflügeln? Nachhaltigkeit als kulturelles Projekt In jüngeren Debatten wird immer wieder hervorgehoben, dass nachhaltige Entwicklung nicht nur ein ökologisches, ökonomisches oder soziales Projekt ist, sondern auch eine – lange unterschätzte – kulturelle Dimension hat (etwa Leipprand 2013). Nachhaltigkeit bzw. ein nachhaltiger Lebensstil verlangt eine neue, eine andere Haltung zur Welt und setzt zwingend eine Veränderung kultureller Normen und Verhaltensweisen, ein Aufbrechen alter Denkmuster – also all dessen, was Harald Welzer „gewachsene mentale Infrastrukturen“ (Welzer 2011) nennt – voraus. Es braucht dafür die Entwicklung von positiven Zukunftsbildern und Narrativen, die die „Lebensqualität in einer nachhaltigen Moderne“ (Schneidewind 2018) und deren Gestaltbarkeit in den Vordergrund rücken und nicht nur um Dystopien kreisen. Denn sonst scheinen sich nachhaltige Zukunftsperspektiven vorrangig mit Bedrohung, Verzicht oder Verboten zu verbinden. Wie es im Tutzinger Manifest sehr weitsichtig bereits 2001 formuliert wurde: „Denn der Erfolg des Jahrhundertprojektes dürfte entscheidend davon abhängen, ob und wieweit es künftig gelingt, neben naturwissenschaftlichen, sozial- und wirtschaftspolitischen Konzepten auch kulturell-ästhetische Gestaltungskompetenzen substanziell in die Umsetzungsstrategien einzubeziehen.“ Am Beginn eines Transformationsprozesses steht in der Regel die Irritation, weil das Alte, das Gewohnte nicht mehr trägt. Kunst, Kultur und kulturelle Bildung vermögen es in besonderer Weise, die Irritation in einen kreativen Impuls und in einen Anstoß zur Veränderung zu verwandeln. Kulturelle Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung: produktive Partnerinnen Gleichwohl mag sich die Frage aufdrängen, ob es nicht vorrangig Aufgabe der Bildung für nachhaltige Entwicklung sein sollte, sich mit dem Nachhaltigkeitsthema zu befassen. Dass sich Bildung für nachhaltige Entwicklung in den 1990er Jahren als neues, eigenständiges Arbeitsfeld entwickeln und etablieren konnte, ist zweifellos ein Fortschritt und ein Gewinn. Das Verhältnis von kultureller Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung ist jedoch nicht als ein Konkurrenzverhältnis zu sehen, vielmehr gibt es hier die Chance produktiven Zusammenwirkens auf der Grundlage unterschiedlicher Stärken. Die Vorzüge der kulturellen Bildung liegen darin, dass sie ausdrücklich und vorrangig auf einen Prozess der Selbst- und Persönlichkeitsbildung zielt, dass sie Lern- und Experimentierräume eröffnet und von Ergebnisoffenheit geprägt ist, dass sie zu einem Perspektivwechsel und zur Infragestellung von Gewissheiten einlädt, Diskursräume jenseits der eigenen „Milieublasen“ schafft und nicht in derselben Weise normativ aufgeladen ist wie Bildung für nachhaltige Entwicklung (Reinwand-Weiss 2020). Insofern können sich Bildung für nachhaltige Entwicklung und kulturelle Bildung wechselseitig befruchten und beflügeln. Wie Karola Braun-Wanke und Ernst Wagner (2020) schreiben: „Wenn es gelingt, BNE und kulturelle Bildung gleichberechtigt zu verbinden, dann haben sie die transformative Kraft, eine lebenswerte Zukunft sowohl subjekt- als auch gemeinwohlorientiert greifbar zu machen und so den Wandel zu gestalten.“ Kunst, Kultur und kulturelle Bildung als Baustoff einer nachhaltigen Zukunft? „Wenn Nachhaltigkeit attraktiv sein und faszinieren soll, dann wird die Kategorie Schönheit zum elementaren Baustoff einer Zukunft mit Zukunft, zu einem allen Menschen zustehenden Lebensmittel“, so poetisch liest es sich im Tutzinger Manifest von 2001. Wenn kulturelle Bildung jedoch eine ernstzunehmende Rolle im Nachhaltigkeitsdiskurs einnehmen und Transformationsprozesse im Sinne einer nachhaltigen und zugleich lebenswerten Gestaltung der Welt anstoßen und beflügeln will, wird sie zum einen in einem anderen Maße als bisher strategische Allianzen mit anderen Akteur*innen eingehen und sich aus einer oftmals selbst gewählten Verinselung lösen müssen – ohne Abstand vom „Eigensinn“ künstlerischen und kreativen Tuns zu nehmen. Sie wird sich zudem gefallen lassen müssen, dass ihre Wirkungsbehauptungen einer kritischen Überprüfung und Evaluierung unterzogen werden. Damit kulturelle Bildung die ihr zugeschriebene transformative Kraft entfalten kann, braucht es aber auch verlässliche Strukturen und eine sichere und nachhaltige Verankerung, in schulischen wie in außerschulischen Kontexten. Solange die Struktur des Handlungsfeldes jedoch – wie bislang – vorrangig durch zeitlich begrenzte, wenngleich mitunter opulent ausgestattete Förderprojekte bestimmt wird, während die regelhafte Infrastruktur eher prekären Charakter besitzt, wird die Idee von der kulturellen Bildung als einem allen zustehenden Lebensmittel und Baustoff für eine nachhaltige Zukunft ein schönes, aber uneingelöstes Versprechen bleiben. Quellen (1) Braun-Wanke, Karola/Wagner, Ernst (Hrsg.): Über die Kunst, den Wandel zu gestalten. Kultur – Nachhaltigkeit – Bildung, Münster/New York 2020. (2) Leipprand, Eva: Kultur, Bildung und Nachhaltige Entwicklung, in: Kubi-online 2013/2012 ( Link , 22.08.2020). (3) Rat für Kulturelle Bildung: Alles immer gut. Mythen kultureller Bildung, Essen 2013. (4) Reinwand-Weiss, Vanessa-Isabelle: Kulturelle Bildung als Bildung für nachhaltige Entwicklung? Impulse für die Verbindung zweier normativer Ansätze und Praxen, in: kubi-online 2020 ( Link , 08.01.2021). (5) Schneidewind, Uwe: Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt 2018 (6) Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg.): Tutzinger Manifest, 2001 ( Link , 08.01.2021). (7) Welzer, Harald: Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam, Berlin 2011, Heinrich-Böll-Stiftung, Schriften zur Ökologie 14 ( Link , 08.01.2021). Autorin
Weitere Beiträge

Der Blog zum Tutzinger Manifest wird gefördert im Projekt "Digitalität als neuer Treiber einer Kultur der Nachhaltigkeit" durch das Umweltbundesamt und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz. Die Mittelbereitstellung erfolgt auf Beschluss des Deutschen Bundestages.  .

Share by: