Blog Post

Blog

Neue Normalität als kulturpolitisches Dispositiv

Norbert Sievers

1. November 2021



„Wir können nicht zur Normalität zurückkehren, denn die Normalität war von Anfang an das Problem.“ (Graffiti in Hongkong) (1)



In der Hochzeit der Coronakrise war es allen klar und nach der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal in diesem Jahr wurde es noch einmal bestätigt: So kann es nicht weitergehen. Selbst internationale Stars wie Madonna, Robert de Niro oder Juliette Binoche und weitere 200 Größen des Showbusiness hatten angesichts der Corona-Pandemie und der Klimakrise im Jahr 2020 in der Le Monde unter dem Titel „Nein zu einer Rückkehr zur Normalität“ ein radikales Umdenken und eine grundlegende Änderung des Lebensstils, des Konsumverhaltens und der Wirtschaft eingefordert. Dies mag bizarr anmuten, denn die „größten Kritiker der Elche waren früher selber welche“. Aber es zeigt immerhin, dass die Kultur- und Zivilisationskritik nicht mehr nur als Akademiethema behandelt wurde, sondern bis in die Lokalblätter der Tagespresse hinein mehr und mehr Gegenstand des öffentlichen Gesprächs wurde, für wie glaubwürdig man die Protagonist*innen auch immer halten mochte (2). Auch aus politischen Kreisen waren mahnende Stimmen zu hören. So forderte Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) die deutsche Wirtschaft auf, sich zur Rettung des Klimas vom traditionellen Kapitalismus abzuwenden und offenbarte mit dieser Ansage immerhin, dass der ressourcenvernutzende Turbo-Kapitalismus auch in konservativen Kreisen auf Kritik stößt (3). Finanzminister Olaf Scholz sprach von „neuer Normalität“, die es politisch zu gestalten gelte, und brachte damit einen gefühlten Konsens auf den Punkt.


Neue Sicht auf die Gesellschaft
 

Es scheint, als lebten wir in einer Zeit des Übergangs in eine neue Zeit, für die es noch keinen Begriff gibt. Einerseits ist da noch das „anything goes“ der Postmoderne, für die die Zukunft immer offen und gestaltbar war und natürlich immer Fortschritt bedeutete. In der positives Denken Lifestyle war und Ausweis dafür, wie man richtig denkt und lebt, in der Krisen vor allem eine Chance sind und das Glas immer halb voll und nicht halbleer. Es war / ist eine Zeit der voll ausgelebten Konsumentenfreiheit, aber auch eine „Kultur der radikalen Positivität, die nichts anderes ist als der Zwang, immer glücklich, gesund und produktiv zu sein“ (Leberecht 2020). Vor allem die audio-visuellen Medien (auch die öffentlich-rechtlichen Mainstreamsender), allen voran die Werbeindustrie lassen noch heute keine Gelegenheit aus, diese Botschaft zu verkünden. Und sie kommt an. Die Menschen brauchen diese positive Haltung offenbar, um ihr Leben zu meistern und in einer Welt bestehen zu können, in der unbedingtes Wachstum trotz des Wissens um dessen globale Folgeschäden das non plus ultra ist.


Doch langsam wendet sich das Blatt. Das Infotainment mit seiner Tendenz zur allseitigen und immerwährenden „Farbigkeitsbedarfsdeckung“ (Hermann Glaser) bekommt einen Dämpfer. Auch wegen der Pandemie ist Nachdenklichkeit wieder angesagt und Kritik und Skepsis gehören wieder zum „guten Ton“ verantwortungsvoller Politik und es hat allen Anschein, als würden die Mahner*innen für lange Zeit aus bekannten Gründen den Ton angeben. Kein Mensch glaubt heute noch, dass die Zukunft im positiven Sinne völlig offen zu gestalten ist. Dieser Traum ist vorerst ausgeträumt. Dies spiegeln auch gesellschaftstheoretische Beiträge. Spätestens seit die allzu optimistische Prognose vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyma) sich realpolitisch als falsch erwiesen hat und verstärkt durch die internationale Finanzkrise 2007/08 und insbesondere seitdem die Klimakatastrophe immer offensichtlicher wird, weicht die Zuversicht auf beständigen gesellschaftlichen Fortschritt in der Öffentlichkeit zumindest der westlich-kapitalistischen Länder einer Desillusionierung. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz spricht vom „Ende der Illusionen“ in spätmodernen Gesellschaften. Er diagnostiziert „Züge des Manisch-Depressiven“ im öffentlichen Diskurs angesichts des „begrenzten Realitätsgehalts des liberalen Fortschrittsmodells“ und mahnt für das 21. Jahrhundert eine Revision des klassischen Fortschrittsbegriffs an, „der uns seit der Aufklärung als Maßstab der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung dient“ (Reckwitz 2019: 11ff./304).


Dies hat Folgen für die politische Kultur und auch für die Art und Weise, wie wir über die Gesellschaft und die Stellung der Menschen darin nachdenken. So weist der Soziologe Udo Thiedeke darauf hin, dass nicht zuletzt durch die Corona-Krise die sozialen Tatbestände wieder in den Blick der Soziologie geraten. Nachdem jahrzehntelang kaum etwas sicherer und selbstverständlicher schien als die Erzählung der Spätmoderne, dass die Gesellschaft eine soziale und kulturelle Konstruktion sei, bringen ein Virus und die Klimakrise uns jetzt offenbar wieder auf den Boden der Tatsachen und geben zu bedenken, dass es auch unabhängig vom Menschen und seinen Interpretationen und Erzählungen mächtige Wirkkräfte gibt, die der gesellschaftlichen Aneignung der Natur und der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ (Thomas Luckmann) Grenzen setzen, dass die „Natur nicht nur als Faktum (etwas Gemachtes), sondern auch als Datum (etwas Gegebenes)“ zu betrachten ist (Thiedeke 2020). Diese Feststellung ist nicht nur soziologisch interessant, sondern auch kulturwissenschaftlich und kulturpolitisch, weil sie auch als ein Indiz für eine neue Sicht auf die Realität gedeutet werden kann, die die Selbstverständlichkeit, alles Gesellschaftliche sei sozial oder kulturell konstruiert (und damit auch gestaltbar), infrage stellt oder zumindest relativiert. 


Kulturpolitik als neue Gesellschaftspolitik

 

Was bedeutet dieser mögliche Wandel für die Kultur und für die Kulturpolitik, die doch so sehr mit der Optionsvielfalt der Postmoderne und dem ihr innewohnenden Wachstumsimperativ verquickt ist. Welchen Stellenwert wird sie im Kontext der notwendigen ökologisch-sozialen Transformation haben? Kann sie sich als neue Gesellschaftspolitik ins Spiel bringen? Wird sie neue Relevanzen und Prioritäten definieren und behaupten können? Die Kulturpolitik wird sich diesen Fragen stellen müssen, aber sie ist derzeit schlecht dafür gerüstet, weil ihre Akteure sich zum Teil in identitätspolitischen Kämpfen verheddern und weil die Kulturszene sich gegenwärtig aus verständlichen Gründen nichts sehnlicher wünscht als die Stabilisierung des Status quo ante. Die Corona-Krise ist noch nicht vorbei, da werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um alle Kulturveranstaltungen wieder an den Start zu bringen, koste es was es wolle. Der Ruf nach neuer Normalität war gestern. Da hilft dann auch keine noch so begründete Transformationsdebatte oder eine Neuauflage der „Kulturinfarkt-Diskussion“ (4). In diesen Zeiten ist auch der links-liberalen Kulturszene das ‚Hemd näher als die Hose‘, was im Moment eher für die Förderung weiterer Kompensationsprogramme spricht und die Lösung von Strukturfragen in weite Ferne rückt.


Andererseits sind aber nicht alle kulturpolitisch Handelnden und kulturell Tätigen blind und sehen, was die Stunde geschlagen hat. Deshalb kommen grundsätzliche Debatten wieder auf die Tagesordnung. Die Zeit ist reif dafür, Kulturpolitik als neue Gesellschaftspolitik zu denken. Dies kann aber weniger von den Kulturinstitutionen und den kulturpolitischen Entscheidungsebenen ausgehen. Sie sind zu sehr Profiteure des Systems. Die Initiative muss vielmehr aus der Gesellschaft kommen. Hier braucht es Organisationen, die die Verantwortung dafür übernehmen und bereit sind, auch im eigenen widerstreitenden Milieu die Widersprüche und kognitiven Dissonanzen aufzeigen und an den gesellschaftlichen Verantwortungssinn appellieren. Ein wichtiger Ansatz in dieser Hinsicht ist das Positionspapier des Präsidenten der Kulturpolitischen Gesellschaft Tobias J. Knoblich, mit dem er deutlich macht, dass ein „'Weiter so' nicht mehr möglich“ ist und sich für eine „grundlegende Transformation“ und „Strukturoffensive für die Kultur und Kulturpolitik“ ausspricht, die u.a. „alle Maßnahmen (im Kulturbereich, d.V.) unter dem Vorbehalt der Kulturverträglichkeit“ stellt (5). Das wird nicht einfach sein, weil so mancher Konsens bröckeln wird und Verluste drohen. Aber es ist eine Chance, wieder argumentativen Boden unter den Füßen zu gewinnen und den Beweis dafür anzutreten, dass Kulturpolitik zu antizipatorischem und systemischem Denken und Handeln in der Lage ist, was nicht zuletzt Hermann Glaser zu Lebzeiten immer eingefordert hat. Dies wäre die Voraussetzung für eine notwendige mentale Transformation in der Kulturpolitik und eine neue Normalität, die – in Relation zu den großen notwendigen Umbrüchen – aber nur in Spurenelementen zu erkennen ist.

 


 

Quellen

 

(1) Zitiert nach Raab, Klaus (2020): Welt im Reagenzglas, in: der Freitag, Nr. 16, 16. April 2020, S. 13


(2) Siehe dazu die dpa-Meldung vom 06. Mai 2020 Link


(3) Siehe dazu Generalanzeiger Bonn vom 03. Mai 2020 Link


(4) Was natürlich nicht bedeutet, dass der neue Beitrag „Kulturinfarkt revisited?“ von den Infarktautoren nicht sehr bedenkenswerte Denkanstöße enthalten würde. Haselbach, Dieter/Klein, Armin/Knüsel, Pius/Opitz, Stephan (2020): Kulturinfarkt revisited? https://kupoge.de/wp-content/uploads/2020/11/Haselbach_et.al.Kulturinfarkt-revisited.pdf


(5) Knoblich, Tobias J. (2021): Zukunft durch Transformation! Es braucht eine Strukturoffensive für die Kultur und Kulturpolitik, Link


(6) Reckwitz, Andreas (2019); Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp Verlag 


(7) Thiedeke, Udo (2020): Der stille Frühling der Soziologie. Wie die Corona-Krise Gewissheiten der Soziologie herausfordert, in: Die Redaktion, 15. April 2020


Autor

 

Norbert Sievers

Dr. Norbert Sievers


Dr. Norbert Sievers, ehemaliger und langjähriger Geschäftsführer und Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.

Share by: