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Tutzinger Manifest reloaded

 

Der Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit (FÄN)

Adrienne Goehler

13. Oktober 2021

 


Das Tutzinger Manifest fordert die lokale, nationale und internationale Nachhaltigkeitspolitik auf, sich mehr als bisher den gesellschaftlichen Entwicklungspotenzialen von Kultur, Ästhetik und Kunst zu öffnen. Denn der Erfolg des Jahrhundertprojektes Nachhaltigkeit dürfte entscheidend davon abhängen, ob und wie weit es künftig gelingt, neben naturwissenschaftlichen, sozial- und wirtschaftspolitischen Konzepten auch kulturell-ästhetische Gestaltungskompetenzen substanziell in die Umsetzungsstrategien einzubeziehen.


Gerne, und immer wieder aufs Neue unterstreiche ich, dass meine ersten Überlegungen für einen "Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit (FÄN)", auch durch das Tutzinger Manifest 2001 inspiriert wurden, bzw. lässt sich der FÄN als eine praktische Konsequenz aus dieser Erklärung lesen, die  jetzt 20 Jahre zurückliegt. Zwei Jahrzehnte, ohne dass die lokale, nationale und internationale Nachhaltigkeitspolitik sich an dieser Einsicht orientiert hätte. Ohne, dass die Verbindung Ästhetik und Nachhaltigkeit in öffentliche Förderprogramme, politische Ressorts oder private Stiftungen nennenswert Einzug gefunden hätte. Vielmehr verhindern gegenwärtige Förderkriterien politischer Programme und Stiftungen hierzulande immer noch die ästhetische Dimension nachhaltigen Denkens, Lebens und Wirtschaftens.


Die öffentlich geförderte Kultur-Theater-Kunstwelt wiederum hat die Verbindung von Ästhetik und Nachhaltigkeit auch nicht wirklich in ihre Wahrnehmung aufgenommen und etwa nachhaltigere Produktionsbedingungen eingefordert. Wertvolle Jahre, die in der Kunst verstrichen, bis 2018 durch "Das terrestrische Manifest" des französischen Philosophen Bruno Latour, einer der großen Autoritäten im zeitgenössischen Kunstbetrieb, aber auch durch Greta Thunberg und den fühlbaren Dürresommer es auch zu den Künsten durchdrang, dass sie ebenfalls auf dem Fundament kolonialer, patriarchaler und ressourcenzerstörender Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise stehen und dass es kein Wegducken mehr vor der Schärfe der Klimakrise geben kann.


Ein Grund für diese Selbstvergessenheit des Kulturbereichs ist auch, dass die Akteur:innen im letzten Jahrzehnt einer beispiellosen Selbstoptimierungserwartung ausgesetzt waren und sich selbst ausgesetzt haben. Das kapitalistische Prinzip des 'höher, schneller, weiter, größer, mehr' hat nicht nur den Planeten erschöpft. Auch künstlerische Institutionen und das einzelne künstlerische Leben, das - so nicht fest angestellt oder verbeamtet, - sich in einem beschleunigten Projekt-Antragswahn befindet, der seit Pandemiebeginn noch an Fahrt aufgenommen hat. Nie floss mehr Geld aus dem staatlichen Füllhorn, das aber nur in größter Hast und nur von denen, die das System besonders gut durchblickten, abgerufen werden konnte. Nachhaltigkeit sieht anders aus. Gerechtigkeit auch.


Obendrein bleiben wir weiter gefangen in einer infantilisierenden Förderlogik, die nur auf sofort und zweifelsfrei feststellbare Innovation und Einmaligkeit setzt und diese durch Wettbewerb, Formalität, Kontrolle und rigides Zeitmanagement erzwingen will. Aktuelle Förderstrukturen verlangen, künstlerisches Schaffen am ständigen Outputzwang innerhalb kürzester Zeitfenster zu messen, womit sie neben unökologischen Produktionsweisen auch die Verschleuderung künstlerischer Energien und finanzieller Mittel verursachen. Stattdessen sollten wir die Vorstellungskraft der Künste für diese notwendige Transformation entfesseln. Es geht um die »Verweltlichungen der Künste« (Donna Haraway), um die menschlichen Beziehungen, Zeit, Arbeits- und Denkweisen als Ressourcen zu begreifen, als Modelle einer Zukunft, die schon längst begonnen hat, jenseits der noch eher hermetischen Räume der Selbstvergewisserung. Es muss gehandelt werden. Von allen. Jetzt.


Jetzt brauchen wir andere, entschleunigte, nachhaltige und zugleich durchlässige Förderstrukturen. Weniger Zwang zur Produktion, aber mit der Idee, die Mittel der Kunst in andere gesellschaftliche Bereiche hineinzutragen, gemeinsam zu forschen, über die disziplinären Grenzen hinweg. Wir müssen neue Formen des künstlerisch-wissenschaftlichen Eingreifens und Kooperierens ermöglichen und unser Wissen und unsere Leidenschaften zusammenbringen, denn Alexander v. Humboldts notierte bereits, dass über die Natur nicht forschen könne, wer sie nicht fühle (1).


Um die bloße Segmentförderung und entsprechende Versäulung des Wissens zu überwinden, braucht es andere Gefäße als die disziplinär zugeschnittenen Fördertöpfe, um künstlerische Interventionen auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit zum erweiterten gesellschaftlichen Nutzen zu ermutigen: Einen Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit, der idealerweise von mehreren Ministerien ermöglicht wird, um das Forschen und Wissen der Künste und Wissenschaften füreinander durchlässig zu machen, ergänzt um das aktivistische Bewegungs- und das lokale Alltags-Wissen.


Wir müssen kulturpolitisch größer denken und begreifen, dass die bisherige kurzlebige Kulturproduktion und ihre Fördermodalitäten Nachhaltigkeit in der Kunst verunmöglichen. Deshalb muss ein FÄN Zeit geben für ein gemeinsames multidisziplinäres und multiperspektivisches Forschen. Dafür müssen wir sowohl das gedankliche wie ordnungspolitische Silo der Kunst-Kultur als auch das der Wissenschaft verlassen, die beide weitgehend unverbunden neben den anderen Ressort-Silos stehen.


Das Bedürfnis nach einem radikalen Move aus dieser Gefangenschaft bringen die sehr unterschiedlichen 131 Personen aus Wissenschaft, Forschung und Kunst, als stimmen- und gedankengewaltiger Chor zum Ausdruck, mit dem sie den FÄN aus ihrer Sicht plausibel machen (2). Der Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit - als Laboratorium, möglicherweise als ein Satellit des Neuen Europäischen Bauhaus, das auch institutionelle Neuerungen ermutigen will - ist jetzt in greifbarer Nähe. Die KuPoGe als wortmächtige und politikbegleitende Organisation könnte ihrem Präsidenten folgen, der für die zwingend notwendige Aufkündigung der Zergliederung von Erkenntnis im Decartes'schen Sinne plädiert. (...) "Die sinnlichen Vermögen (...) arbeiten lustvoll mit ihrer Komplexität. (....) Ästhetik erschließt uns die Welt auf ihre Weise, sie erlaubt Gefühl, Schock, individuelle Annäherung." Er traut dem FÄN zu, "Großartiges [zu] leisten, da er ein entscheidendes Zukunftsthema mit sinnlicher Qualität und ästhetischer Finesse verbindet. Es werden Dinge verhandelbar, weil sie plötzlich dringlich inszeniert werden, fasslich, erlebbar, annehmbar".


Der FÄN, so behaupte ich, reflektiert die Conclusio des Tutzinger Manifests und könnte ihr zum praktischen Durchbruch verhelfen. Nach 20 Jahren scheint ein Handeln nach der Erkenntnis endlich möglich. Es ist Verhandlungszeit. Gibt es nicht so oft.




Quellen

(1) Alexander von Humboldt an Goethe am 3.1.1810, vgl. Engelhard Weigl (1990): Instrumente der Neuzeit: Die Entdeckung der modernen Wirklichkeit. Metzler, S. 201

(2) Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit mit allen Stimmen, auch der von Dr. Tobias Knoblich (Link)

(3) Zwischenruf "wann, wenn nicht jetzt?" und "für einen fonds ästhetik und nachhaltigkeit | FÄN. raus aus den echokammern – aufruf zur kompliz:innenschaft!"

in transformers, arbeitsbuch 30, Theater der Zeit, Juli 2021 (Link)

(4) Konzeptgedanken zur Errichtung eines Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit (Link)




Autorin

Nachhaltigkeit meint auch das Rad der guten Gedanken nicht immer neu zu erfinden. Deshalb habe ich eigene und befreundete Überlegungen recycelt. 

Adrienne Goehler

Adrienne Goehler ist freie Publizistin und Kuratorin, Autorin und Aktivistin Bedingungsloses Grundeinkommen, Initiatorin und Künstlerische Leitung der Wanderausstellung "Zur Nachahmung empfohlen! Expeditionen in Ästhetik und Nachhaltigkeit", Affiliate Scholar am IASS Potsdam und Treiberin des FÄN. Die Diplompsychologin war Präsidentin der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Berlin , Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds und Ideengeberin für einen Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit (FÄN).


Foto: Wenke Seemann



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