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Kultureller Aufbruch

Ein Nachhaltigkeitsmanifest der Kultur

Ralf Weiß, Henning Mohr und Uta Atzpodien

24. Januar 2022


„Wir sollten uns darauf konzentrieren, eine Politik zu unterstützen, die uns mehr verspricht als bloße Selbstbehauptung, die dazu beitragen kann, eine friedliche und dynamische Transformation zu fördern.“ (Willy Brandt)



Obwohl die Evangelische Akademie im bayrischen Städtchen Tutzing im (kultur-) politischen Diskurs heutzutage wenig bekannt sein dürfte, spielt sie eine bedeutsame Rolle im deutschen Transformations- bzw. Nachhaltigkeitsdiskurs: Bereits im Jahr 1963 skizzierten Willy Brandt und Egon Bahr hier ihre Perspektiven einer neuen Ostpolitik und prägten erstmals die Formel »Wandel durch Annäherung«. Gut 25 Jahre später kam es zur Deutschen Wiedervereinigung. Der Ort war also gut gewählt, als Dirk Messner und Hans Joachim Schellnhuber mit dem Wissenschaftlichen Beirat für globale Umweltveränderungen (WBGU) im Jahr 2011 ebenfalls in Tutzing die Perspektive einer »Großen Transformation zu einer klimaverträglichen Gesellschaft« formulierten. Knapp fünf Jahr später verabschiedeten die Vereinten Nationen die Agenda 2030 zur »Transformation unserer Welt«. Sowohl von Willy Brandt als auch vom WBGU gingen wesentliche Transformationsimpulse für die nationale und internationale Politik aus und definierten zentrale Wege zur UN Agenda 2030. 



Tutzinger Manifest


Kurz nach der Jahrtausendwende, im Jahr 2001, war man von einer globalen Transformationsagenda noch weit entfernt. Das galt auch für die Kulturpolitik, zumindest im Hinblick auf eine Nachhaltigkeitstransformation. Die zu diesem Zeitpunkt noch junge Bundesbehörde des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) hatte es zunächst stärker mit einer transformativen Kulturpolitik zur Deutschen Einheit zu tun. So waren es im Jahr 2001 andere Akteur*innen wie Bernd Wagner von der Kulturpolitischen Gesellschaft, die Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt, Günther Bachmann vom frisch gegründeten Rat für nachhaltige Entwicklung oder Monika Griefahn, die Vorsitzende des Kulturausschusses des Deutschen Bundestages, die im Anschluss an eine Tagung an der Evangelischen Akademie Tutzing das Tutzinger Manifest zur kulturellen Dimension der Nachhaltigkeit verantworteten bzw. in die Öffentlichkeit brachten.


Das Tutzinger Manifest war vor allem an die im Folgejahr terminierte UN-Weltkonferenz für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg gerichtet und verfolgte als wichtigstes Anliegen, Ästhetik und Kultur als maßgebliche Dimension in das sich etablierende Nachhaltigkeitskonzept und die internationale Nachhaltigkeitspolitik aufzunehmen. Der Kulturbereich und die Kulturpolitik standen nicht im Vordergrund dieses kulturell motivierten Nachhaltigkeitsmanifestes, auch wenn nicht zuletzt Monika Griefahn künftige Verbindungen von Nachhaltigkeitspolitik und Kulturpolitik skizzierte. Auch Fragen einer gesellschaftlichen Transformation und eines kulturellen Wandels spielten in dem Manifest noch keine zentrale Rolle – obgleich auch die Revision überkommener Normen, Werte und Praktiken in den Blick genommen wurde. Das Tutzinger Manifest begründete eine nationale Debatte um Kultur und Nachhaltigkeit, die über einen längeren Zeitraum weder in der Nachhaltigkeitspolitik noch in der Kulturpolitik einen großen Einfluss hatte. Die in anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft schon viel früher einsetzende Nachhaltigkeitsorientierung und Nachhaltigkeitstransformation, die sich beispielsweise an Konzepten und Politiken von Energiewende, Ernährungswende oder Mobilitätswende festmachen, wurden im Kulturbereich viel zu lang wenig thematisiert und wenig vorbereitet. 


Kulturpolitik und Nachhaltige Entwicklung

 

Im letzten Jahr – zum 20. Jubiläum des Tutzinger Manifests – hatte sich die Situation zwar etwas verbessert, allerdings steckt die Verankerung der Nachhaltigkeitsdebatte im deutschsprachigen Kulturbereich noch in den Kinderschuhen. Derzeit befindet sich dieser Sektor zwischen einer zivilgesellschaftlichen Klima- und Zukunftsbewegung und einer auf europäischer und weltweiter Ebene voranschreitenden Entwicklung einer Kultur- und Nachhaltigkeitspolitik, die die Notwendigkeit und das Potential von Nachhaltiger Entwicklung in der Kultur und durch die Kultur erkennt. Diese reichen auf europäischer Ebene vom Green Deal und der Initiative Neues Europäisches Bauhaus bis zum aktuellen EU Arbeitsplan Kultur für die Jahre 2019 bis 2022, unter deren sechs Prioritäten zwei Prioritäten auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz fokussiert sind: Sustainability in cultural heritage und Culture as a driver for sustainable development. Zu beiden Themen erarbeitet die EU zur Zeit Berichte und Handlungsempfehlungen. Auch die Kulturminister*innen der G20-Staaten haben im Jahr 2021 mit der Verabschiedung der Rom Erklärung (G20 2021) das Potenzial der Kultur zur Lösung der Klimakrise zu einem Grundprinzip ihrer Kulturpolitik gemacht.


Debatte zur Nachhaltigkeitskultur im digitalen Zeitalter 

 

Damit sind zwar die ersten wichtigen Meilensteine auf den Weg gebracht worden, für eine ernsthafte Nachhaltigkeitsbewegung braucht es aber weiterhin eine Stärkung von Diskurs und Praxis. Der Kontext des 20. Jubiläums des Tutzinger Manifests bot einen geeigneten Zeitraum, um zukunftsweisende Perspektiven für die Nachhaltigkeitstransformation der Kulturpolitik zu entwerfen. Die Kulturpolitische Gesellschaft startete im letzten September diesen Blog, in dem eine Reihe wesentlicher Fragen diskutiert wurden: Bei welchen der 17 UN-Nachhaltigkeitszielen ist die Kultur wirklich auf gutem Weg? Können uns die Erfolge in Nachhaltigkeitsbereichen wie Kultureller Bildung, Teilhabegerechtigkeit, Inklusion und andere zufrieden stellen? Was ist tatsächlich gelungen? Was braucht eine Kultur der Nachhaltigkeit im digitalen Zeitalter? Die Blogbeiträge beschäftigten sich sowohl mit einzelnen Kulturfeldern als auch Kunstsparten, etwa Bibliotheken und Literatur, oder auch Nachhaltigkeitsperspektiven für kulturelle Bildung und Kulturförderung. Sie hinterfragten das aktuelle Leitbild der Kulturpolitik und setzten sich mit der Notwendigkeit eines neuen Tutzinger Manifests auseinander. Parallel dazu entstand eine 9-teilige Podcast-Reihe, in der führende Persönlichkeiten aus dem Nachhaltigkeits- und Kulturbereich über zukunftsweisende politische Strategien und Schwerpunktsetzungen diskutierten. 


Nachhaltigkeitsmanifest der Kultur als Aufbruchssignal

 

Die Ergebnisse dieses Prozesses hätten in der in Tutzing zunächst für November 2021 geplanten Tagung »Nachhaltigkeit als kulturelles Projekt« vorgestellt und diskutiert werden sollen. Pandemiebedingt wurde diese Veranstaltung verschoben und findet die Diskussion eines kulturpolitischen Nachhaltigkeitsmanifests in einem digitalen Worldcafe statt. Ähnlich wie die unter dem Leitbild »Kultur für alle« in den 1970er-Jahren erfolgte Erweiterung der Kulturpolitik, gilt es auch heute, die Kulturpolitik mit Blick auf die gesellschaftlichen und weltgesellschaftlichen Herausforderungen zu erweitern und unter ein neues Leitbild zu stellen, das sich mit den schon entstandenen Ansätzen und Initiativen für eine Nachhaltigkeitskultur verbindet. In einem Nachhaltigkeitsmanifest der Kultur kann ein solches Leitbild formuliert werden. Wie bei anderen Manifesten, dem Futuristischen Manifest oder dem bis heute relevanten Bauhaus Manifest kann von einem zukunftsweisenden Nachhaltigkeitsmanifest ein kultureller Aufbruch und gesellschaftlicher Wandel ausgehen. International eröffnet die in diesem Jahr in Mexiko stattfindende UNESCO Weltkonferenz Mondiacult 2022 zu Kulturpolitik und Nachhaltige Entwicklung die Perspektive, dieses Aufbruchssignal weiterzutragen.



Quellen

(1) Brandt, Willy (1963): Denk ich an Deutschland … Rede an der Evangelischen Akademie Tutzing

(2) Europäische Kommission (2021): New European Bauhaus. Communication from the commission to the European Parliament, the Council, the European economic and social committee and the committee of the regions

(3) Europäische Kommission (2018): Work Plan for Culture (2019 bis 2022), Link, zugegriffen: 27. Oktober 2021

(4) Europäische Union (2019): Entschließung des Rates der Europäischen Union und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zur kulturellen Dimension der nachhaltigen Entwicklung. In: Amtsblatt der Europäischen Union v. 6.12.2019

(5) Griefahn, Monika (2002): Nachhaltigkeitspolitik und Kulturpolitik – Eine Verbindung mit Zukunft. In: Kulturpolitische Mitteilungen 97 II/2002:28–33 G20. 2021. Rome Declaration of the G20 ministers of culture.

(6) Hoffmann, Hilmar und Kramer, Dieter (2013/2012): Kultur für alle. Kulturpolitik im sozialen und demokratischen Rechtsstaat. Link, zugegriffen: 27. Oktober 2021

(7) Kulturpolitische Gesellschaft (2001): Tutzinger Manifest für die Stärkung der kulturell-ästhetischen Dimension Nachhaltiger Entwicklung, Link 

(8) UNESCO (2018): Kulturpolitik neu | gestalten. Kreativität fördern, Entwicklung voranbringen. Bericht zur Rolle der Kulturpolitik für die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung

(9) UNESCO Mondiacult 2022, Link

(10) Weiß, Ralf (2021a): Neustart Kultur im Zeichen der Nachhaltigkeit. Aufbruch in eine andere Moderne. In: Zeit für Zukunft. Inspirationen für eine klimagerechte Kulturpolitik, Hrsg. Kulturpolitische Gesellschaft, S. 18–21, Link

(11) Weiß, Ralf (2021b): Vom globalen Leitbild zur nachhaltigen Kulturpolitik. In Jetzt in Zukunft. Zur Nachhaltigkeit in der Soziokultur, Hrsg. Schneider, Wolfgang/Gruber, Kristina/Brocchi, 139–43 

 


Der Beitrag erschien erstmals in den Kulturpolitischen Mitteilungen IV/2021 der Kulturpolitischen Gesellschaft und wurde für den Blog aktualisiert.


Autoren


Ralf Weiß

Dr. Ralf Weiß, Geschäftsführer REFLEXIVO Büro für Innovation und Wandel


Der Kultur- und Wirtschaftswissenschaftler ist Vorsitzender des Netzwerks Nachhaltigkeit in Kunst und Kultur (2N2K) e.V. Als früherer Büroleiter einer führenden Nachhaltigkeits- und Kommunikationsagentur, Senior Researcher eines Innovationsforschungsinstituts und Fachgebietsleiter beim Umweltbundesamt verfügt er über langjährige Nachhaltigkeitserfahrungen.

Dieter Rossmeissl

Dr. Henning Mohr, Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. 


Der Kultur- und Innovationsmanager hat u.a. für das Deutsche Bergbau-Museum Bochum gearbeitet. Zuvor promovierte er am DFG-Graduiertenkolleg »Innovationsgesellschaft heute« (TU Berlin, Institut für Soziologie) über die Innovationspotentiale künstlerischer Interventionen in Transformationsprozessen.

Dieter Rossmeissl

Dr. Uta Atzpodien, Dramaturgin, Kuratorin und Autorin 


Uta Atzpodien engagiert sich mit transdisziplinären (künstlerischen) Impulsen für einen gesellschaftlich nachhaltigen Wandel und eine kreative Stadtentwicklung. Promoviert hat sie mit "Szenisches Verhandeln. Brasilianisches Theater der Gegenwart". Seit 2006 lebt sie in Wuppertal, hat hier)) freies netz werk )) KULTUR mit gegründet und ist u.a. Mitglied des und.Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit.

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