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Kultur als vierte Dimension der Nachhaltigkeit

 

Das Tutzinger Manifest als Türöffner in eine neue Wahrnehmung

Eva Leipprand

13. September 2021

 


 

In diesem Jahr wird das Tutzinger Manifest (1) 20 Jahre alt. Der Text ist 2001 im Rahmen einer Tagung entstanden und ein Meilenstein auf dem Weg der nachhaltigen Entwicklung. Er ruft dazu auf, in die Strategien zur Umsetzung des Leitbilds Nachhaltiger Entwicklung auch die „kulturell-ästhetische Dimension“ einzubeziehen. Er verlangt eine grundlegende Revision überkommener Normen, Werte und Praktiken in allen Bereichen“ und macht klar, dass diese Revision auch eine kulturelle Herausforderung ist; dass wir einen kulturellen Wandel brauchen.

 

Auch wenn die Formulierungen des Manifests etwas spröde wirken – dieser Text war für mich ein Türöffner in eine neue Wahrnehmung. Damals wurde mir bewusst, dass auch ich die Welt nicht objektiv betrachte, sondern wie alle anderen eine kulturelle Brille trage, durch die ich die Dinge wahrnehme und bewerte. Diese Brille bestimmt wesentlich mein Handeln. Ich bin eingebunden in „überkommene Normen, Werte und Praktiken“, in die Mythen meiner Zeit, die die Gesellschaft, in der ich lebe, zusammenhalten und ein gemeinsames Handeln überhaupt erst ermöglichen. Der Mensch macht sich ein Bild von der Welt, er möchte sie verstehen; er möchte Narrative entwickeln, die seinem Leben und Handeln Sinn geben – und da sich die Welt verändert, braucht er immer wieder neue. Das ist Kultur. The earth is made of stone. But the world is made of stories. If we want new facts, we need new fiction. (2) (VanJones)

 

Seit im Januar Armin Laschet auf dem CDU-Parteitag die Bergmannsmarke seines Vaters in die Kamera hielt, weiß ich, dass es beim Kohleausstieg nicht nur um den längst überfälligen Wechsel von einer schmutzigen Technologie zu erneuerbaren Energien geht, sondern auch um den schmerzhaften Abschied von einer Kultur des Zusammenhalts, in der man sich 1000 Meter unter Tage, immer aufeinander verlassen konnte. Diese Kultur hat das Selbstverständnis und den Berufsstolz von Familien über Generationen geprägt. Auch bei der Verkehrspolitik kann man die kulturelle Komponente unschwer erkennen. Für viele ist das Auto nicht nur Fahrzeug, sondern Kulturgut, ein Symbol für Freiheit, Macht, Geschwindigkeit, da muss man sich nur einmal die Autowerbung anschauen. Die Einführung eines Tempolimits würde von vielen als Kulturbruch empfunden, und die Umwidmung einer Autospur in einen Fahrradweg als eine persönliche Demütigung. Wer also hier – oder bei der Kohle - heute etwas verändern will, muss sich immer der Tatsache bewusst sein, dass es auch um tiefe Gefühle geht, um Lebensentwürfe, um hochgehaltene Traditionen. Das ist ein wichtiger Grund, warum nachhaltige Politik oft so schwer umzusetzen ist und warum wir die kulturelle Dimension unbedingt mit einbeziehen müssen.


Abschied von überholten Narrativen


Im Rückblick kann man gut erkennen, wie sich handlungsleitende Mythen überleben und kontraproduktiv werden. „Seid fruchtbar und mehret euch“ ist als Maxime schon lange nicht mehr zukunftsfähig, genauso wenig wie „Macht euch die Erde untertan.“ In der Gegenwart ist die Abhängigkeit von überholten Bildern viel schwieriger zu durchschauen. Was wir heute durch unsere Brille sehen, scheint ja richtig und gut! Und wenn nicht gut, dann doch zumindest normal. Es ist Teil unserer Lebensweise und unseres Selbstwertgefühls, das haben wir immer so gemacht, das hat sich bewährt, das wollen wir uns nicht nehmen lassen!

 

Aber wenn wir auf dieser Erde auch in Zukunft ein gutes Leben führen wollen, werden wir, um mit dem Tutzinger Manifest zu sprechen, um eine gründliche Revision unserer Vorstellungen nicht herumkommen. Wir müssen uns eingestehen, dass sich da vieles überlebt hat. Die Geschichte von der weißen Dominanz wird fadenscheinig, die Verheißung vom immerwährenden Wachstum klingt zunehmend hohl, die glanzvolle Story von der großen Freiheit des Internets trübt sich ein, die weltweite Ungerechtigkeit schiebt sich mit immer stärkeren Bildern vor den Erfolg der Globalisierung, und dies alles vollzieht sich vordem Hintergrund abbrechender Gletscher, steigender Meeresspiegel und brennen der Wälder. Die Corona-Pandemie wirft ein Schlaglicht auf die Verletzbarkeit unserer Zivilisation und ihre dunkle Seite: die rücksichtslose Ausbeutung von Natur und Umwelt.


Die transformative Kraft der Kultur


Inzwischen ist aber Konsens: Corona ist auch eine Chance zum Richtungswechsel. Die Pandemie hat gezeigt, wie viel veränderbar ist, wenn man nur will. Für die große Transformation Richtung Nachhaltigkeit brauchen wir die Kultur als vierte Dimension, neben der Ökologie, der Ökonomie und dem Sozialen. Die Kultur schafft erst den Rahmen, in dem sich zukunftsfähiges Handeln entwickeln kann. Das Hinterfragen und Aufbrechen alter Denkmuster ist das Kerngeschäft des Kulturbereichs. Wir müssen uns dringend von der „ideologischen Gehirnwäsche unseres eigenen Zeitalters befreien“ (Tomáš Sedláček) (3). Die herrschenden Narrative haben uns in eine Sackgasse geführt, mit ihrer Überhöhung von Wettbewerb, Beschleunigung, Innovation, Optimierung. Glück und Selbstverwirklichung des Menschen wurden an einen ungeheuren Aufwand an Energie und Material geknüpft, der die Lebensgrundlagen zerstört. Ein nachhaltiger Lebensstil verlangt und ermöglicht eine andere Haltung zur Welt. „Sobald die Struktur eines zentralen Mythos sich zu verändern beginnt, sagen uns die Anthropologen, verändert sich darum herum auch alles andere in der Gesellschaft, und ganz neue Möglichkeiten eröffnen sich, die vorher überhaupt nicht denkbar waren“, meint Jason Hickel in seinem Buch The Divide (4).


Das Dilemma der Kulturpolitik 



Auf dem Kultur-Invest-Kongress 2020 (5) forderte Klimaforscher Professor Schellnhuber die Kultur explizit auf, bei der Sinngebung der Transformation mitzuwirken. Die Wissenschaft alleine könne den Wandel nicht bewirken, ihre Botschaften an die Gesellschaft seien zu komplex und abstrakt; notwendig sei ein „Narrativ der Moderne“, eine „Geschichte, in der die Menschen vorkommen wollen“. Eine große Zukunftserzählung, für die sich der Einsatz lohnt. Das war ein unüberhörbarer Appell auch an die Kulturpolitik: Nutzt die Möglichkeiten dieses so enorm wichtigen Politikbereichs. Macht die Kultur nicht klein; wir brauchen sie für die neue zukunftsfähige Narrative und für die Entpolarisierung der Gesellschaft. Nur aus einem Gefühl des Zusammenhalts kann nachhaltige Politik erwachsen, so wie umgekehrt aus einemgroßen gemeinsamen Zukunftsprojekt auch ein neues Gefühl des Zusammenhalts entstehen kann.

 

Ein solcher Appell an die Kulturpolitik trifft allerdings auf Bedenken, die tatsächlich schwer wiegen. Die Freiheit der Kunst ist in unserem Land ein hohes Gut. Wir haben Diktaturen erlebt, die gezielt in den Kulturbereich eingriffen, weil sie um seine Relevanz wussten, und ihn benutzten, um die gesellschaftlichen Narrative nach ihrem Willen zu lenken. Da sind wir in unserem Land gebrannte Kinder. Kunst muss frei sein, wenn sie wirklich hinterfragen, verändern, das ganz Andere möglich machen soll. Wie kann sie dann auf Anregung oder im Auftrag des Bestehenden arbeiten? Dieses Dilemma treibt mich seit Jahren um. Es ist meiner Meinung nach einer der großen Elefanten im Raum der Kulturpolitik. Denn Kulturpolitik ist ja auch Gesellschaftspolitik, das hat die Enquete-Kommission zur Kultur in Deutschland 2008 eindeutig festgestellt, und das ist auch Leitsatz der Kulturpolitischen Gesellschaft, gerade auch im Hinblick auf nachhaltige Entwicklung (6). Und deshalb muss sich Kulturpolitik ihrer gesellschaftspolitischen Aufgabestellen – und wann, wenn nicht jetzt, in einer Zeit, in der ein kultureller Wandel überlebensnotwendig ist; in der es weltweit und auch in unserem Land zu einer machtvollen Kulturalisierung zentraler politischer Konflikte kommt, die das Zeug hat, Gesellschaften zu spalten und damit eine gemeinsame zukunftsfähige Politik zu blockieren. Wir brauchen Mut zu einer Kulturpolitik, die bereit ist, in die Gesellschaft hineinzuwirken, den kulturellen Wandel aktiv zu stimulieren, dabei mitzuwirken, den gesellschaftlichen Resonanzraum zu schaffen, der nachhaltiges Handeln möglich macht.


Der Augsburger Agenda-Prozess – Anregungen für eine neue Zukunftserzählung 


Aus dem Dilemma zwischen kulturpolitischem Auftrag und der Freiheit der Kunst hat mir der Augsburger Agenda-Prozess einen guten gangbaren Weg gewiesen. In den 25 Jahren seines Bestehens hat sich der Prozess mit seinen Vorstellungen immer dichter mit dem städtischen Verwaltungshandeln verwoben. Und so wurde vor einigen Jahren für das neue Stadtentwicklungskonzept (STEK) ein Nachhaltigkeitsleitbild entworfen, mit breiter Bürgerbeteiligung, in dem die Kultur neben der Ökologie, der Ökonomie und dem Sozialen als vierte Dimension einbezogen war. Kultur wird hier in einem weiten Sinn verstanden, als ein „verständnismäßiger Rahmen“, aus dem heraus „in den drei anderen grundlegenden Dimensionen gehandelt“ wird (7). In diesem „verständnismäßigen Rahmen“ geht es um eben die „Revision der überkommenen Normen, Werte und Praktiken in allen Bereichen“, die das Tutzinger Manifest verlangt. Der Kulturbereich der Stadt hatte selbst die Aufnahme dieser vierten Dimension angeregt und mitgeholfen, die Ziele der kulturellen Zukunftsfähigkeit ihrer Stadt zu formulieren.

 

Und so wird auf einmal die ganze große Aufgabe der Stadtentwicklung zu einem kulturellen Projekt. Die Botschaft heißt: was auch immer im Bereich der Stadtentwicklung passiert, es hat auch einen kulturellen Aspekt. Es entsteht aus einer bestimmten Haltung zur Welt, es beeinflusst die Haltung und das Leben der Menschen in der Stadt in eine bestimmte Richtung. Jede Maßnahme ist einer Werteentscheidung unterworfen: dient sie der Zukunftsfähigkeit der Stadt oder nicht? Hält sie am Überkommenen fest oder hat sie den Mut zu Neuem? Schreibt sie mit an dem Narrativ der Moderne, an einer Zukunftserzählung, in der die Menschen gerne vorkommen wollen?

 

Jede einzelne so getroffene Entscheidung des Stadtrats ist dann auch eine Botschaft an die Stadtgemeinschaft: Ihr müsst nicht länger gegen den Strom schwimmen, wenn ihr einen nachhaltigen Lebensstil pflegen wollt. Wir wissen diese Bemühungen zu schätzen und wollen es euch leichter machen, indem wir die entsprechenden Strukturen schaffen.

 

So ist dann die Umwidmung einer Autospur zum Fahrradweg nicht ein Sieg des Fahrrads über das Auto, mit Gewinnern und Verlierern, sondern, wenn man so will, ein kultureller Akt, eine gemeinsame Werteentscheidung im Sinne der Kulturleitlinie „Nachhaltige Konsum- und Lebensstile entwickeln und fördern.“ Und so könnte man nun alle die Leitlinien und Ziele durchdeklinieren, von „Stadtteile stärken“ über „Heimat für alle ermöglichen“, „Vielfalt leben“, „gemeinsam Verantwortung übernehmen“ bis zu „Kunst und Kultur wertschätzen“. Sehr reizvoll ist auch das Ziel, „die Freiheit ermöglichen, etwas ohne Ziel zutun“. Da stelle ich mir vor, auf einem schönen werbefreien und nicht verzehrpflichtigen Platz zu sitzen, in der Altstadt oder in irgendeinem Stadtteil, und einen Plausch zu halten, oder auch auf einer Bank unterm Baum an einem der vielen Bäche, die als flüssiges Welterbe durch Augsburg rauschen. Vor meinem inneren Auge entsteht so das Bild einer Stadt, wie sie sich in einem Heilungsprozess nach Corona entwickeln könnte. Ein Ort, in dem das gute Leben der Zukunft erprobt wird. Die Kulturpolitik wird dabei wichtige Hilfe leisten können. Die öffentlichen Häuser werden Allmenderäume sein für das große gesellschaftliche Gespräch und als Dritte Orte Anregungen bieten für eine „Geschichte, in der die Menschen vorkommen wollen“, und der Kulturbereich insgesamt wird mit seinen vielfältigen Möglichkeiten dabei mithelfen, dass sich alle die verschiedenen Menschen auf ihre Weise in der Stadt zu Hause und zugehörig fühlen können.

 


 

Quellen

(1)  https://kupoge.de/ifk/tutzinger-manifest/

(2)  https://vanjones.net/magic-labs-media/

(3) Tomáš Sedláček: Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2009.

(4) Jason Hickel: The Divide. A Brief Guide to Global Inequality and its Solutions, London 2017.

(5) https://kulturmarken.de/veranstaltungen/kulturinvest-kongress/ruckblick-kulturinvest-kongress/ruckbl...

(6)  https://kupoge.de/wp-content/uploads/2019/03/kupoge_grundsatzprogramm.pdf

(7)  https://www.nachhaltigkeit.augsburg.de/zukunftsleitlinien

 


Der Beitrag ist erstmals erschienen anlässlich von 25 Jahren Lokale Agenda 21 Augsburg im Frühjahr 2021 in der Publikation "Lessons learnt. Erkenntnisse für lokale Transformationsprozesse Richtung Nachhaltigkeit" (
PDF) und wurde für den Blog aktualisiert.


Autorin


Foto: Klaus Lipa

Eva Leipprand 


Eva Leipprand führt ein Leben zwischen Literatur und Politik. Sie war Kulturbürgermeisterin in Augsburg, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Kultur der Grünen, Mitglied im Bundesvorstand der Kulturpolitischen Gesellschaft und Vorsitzende des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Sie ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Schwerpunktthema: Kultur und Nachhaltigkeit. 

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