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Von „Kultur für Alle“ zum „Cultural Green Deal“


Christian Steinau

20. September 2021

 

 

Der kulturpolitische Reset der Pandemie


Zu Beginn der Pandemie standen alle Zeichen auf Anfang. Eine große Ruhe legte sich über das Land, die auch den bis dato heiß gelaufenen Kunst- und Kulturbetrieb betraf. Wie zeigte sich dieses „heiß laufen“? Ausstellungen wurden bombastischer, die Spielpläne der Theater dichter und die Arbeitsbelastungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nahmen z.B. durch Anforderungen der Digitalisierung zu. Vor diesem Hintergrund stellte der Ausbruch der Covid-19 Pandemie zu Beginn des Jahres 2020 eine Unterbrechung bestehender Aktivitäten dar, die wie kein anderes Ereignis der letzten Jahrzehnte zum Nachdenken einlud. In was für einer Gesellschaft wollen wir nach der globalen Ausnahmesituation leben? Welchen Stellenwert besitzt die öffentliche Daseinsfürsorge?


Auch die Kulturpolitik war von diesem Nachdenken betroffen: Denn sie stand vor der Herausforderung, die Neu-Interpretation und Ausgestaltung bestehender Konzepte und Legitimationsstrategien voranzutreiben. Wie sich gezeigt hat, kommt hier der Verbindung von Nachhaltigkeit und Kulturpolitik eine besondere Rolle zu. Nachhaltigkeit als kulturelles Projekt zu verstehen, bietet die Möglichkeit, an die erfolgreiche kulturpolitische Theoriebildung der Vergangenheit anzuknüpfen und diese neu zu denken.


Kulturpolitische Konzepte müssen für das 21. Jahrhundert neu interpretiert werden


In kulturpolitischen Wahlkampfreden ist es weit über alle Parteigrenzen hinweg üblich, den wolkigen Begriff „Kultur für Alle“ zu bemühen. Das Modell beinhaltet die Idee, dass sich der „Kulturstaat“ nur von der Basis aufbauen lässt. Aus diesem Grund müssen alle Bürger*innen unabhängig ihrer Herkunft, ihres Einkommens und ihrer individuellen Voraussetzungen in die Lage versetzt werden, am kulturellen Leben teilzuhaben. Neben dem Konzept „Kultur für Alle“ entstand auch der Begriff der „Soziokultur“ in der Zeit nach der 68er Bewegung. Hier forderte Willy Brandt „Mehr Demokratie wagen“ und in allen Gesellschaftsbereichen wurden Demokratisierungs- und Innovationsprozesse angestoßen.


Deutlich unterscheidet sich unsere Gegenwart heute von der Bundesrepublik der 1970er Jahre. Stärker als je zuvor prägen Globalisierung, Digitalisierung und die Klimakrise unsere Gesellschaft. Heute gilt es, der kulturpolitischen Botschaft des individuellen Empowerments neue Kraft zu verleihen. Ebenso muss die Kulturpolitik neue Bündnisse schmieden, um die Kulturpolitik als Querschnittsthema in der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Hierfür eignet sich die Verbindung kulturpolitischer Fragestellungen mit denen der öko-sozialen Gesellschaftstransformation. Und tatsächlich haben sich seit Ausbruch der Corona-Pandemie die Debatten zum Thema Nachhaltigkeit in Kulturpolitik und Kulturmanagement verstärkt. Es scheint möglich und notwendig, Nachhaltigkeit als kulturelles Projekt zu begreifen und für kulturpolitische Legitimationsstrategien aufzunehmen.


Die öko-soziale Transformation als Kulturwandel


In der öffentlichen Debatte zum Klimawandel ist immer wieder die Rede von einem Green New Deal. Dieser wurde in den USA beispielsweise prominent von dem ehemaligen demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders vorangetrieben. Auf europäischer Ebene ist der Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans mit der Umsetzung eines European Green Deal betraut. Während Investitionen in Erneuerbare Energien oder energetische Gebäudesanierung klimapolitisch nicht erklärungsbedürftig sind, verwundert die Verbindung von Klima- und Kulturpolitik auf den ersten Blick. Denn Kunst und Kultur leben von ihrer gesellschaftlich garantierten Freiheit. Sie müssen sich keinem Zweck unterordnen.


Dennoch lohnt es sich zu fragen, ob nicht gerade für die Kulturpolitik eine Chance darin liegt, sich in der Ausbuchstabierung eines Cultural Green Deal neu zu erfinden.

Ein solcher setzt sich die kulturelle Begleitung der öko-sozialen Transformation zum Ziel. Anders ausgedrückt geht es darum, den Erfolg des auf europäischer Ebene angestoßenen European Green Deal zu gewährleisten und über den Wirtschafts- und Energiebereich hinaus mit Leben zu füllen. Ein Cultural Green Deal wirkt zweifach: In Anlehnung an das Kulturprogramm des historischen New Deals können in seinem Rahmen Förderprogramme für notleidende Kulturschaffende und Solo-Selbstständige aufgelegt werden, ähnlich wie es auch mit den Hilfsmaßnahmen in der Pandemie gemacht wurde. Es können aber auch Kulturorganisationen und die kulturelle Infrastruktur über die Krise gerettet und ‚nachhaltig‘ weiterentwickelt werden. Der Cultural Green Deal weist in die Zukunft und unterstreicht die Bedeutung der Themen Nachhaltigkeit und Demokratie.


Das Kulturprogramm des historischen Roosevelt New Deals


Ein Cultural Green Deal kann sich an historischen Vorbildern orientieren ohne diese kopieren zu müssen. Anfang der 1930er Jahre reagierte der demokratische US-Präsident Roosevelt mit dem sog. New Deal auf die verheerenden Auswirkungen der Weltfinanzkrise. Was heute wenig bekannt ist, ist die Tatsache, dass der New Deal auch von einer Serie von kulturpolitischen Fördermaßnahmen verbunden war, um arbeitslosen Künstler*innen die Möglichkeit zur Ausübung ihres Berufs zu geben. Das Kulturprogramm des New Deal war gleichzeitig eine massive Infrastrukturreform. Im Rahmen von Investitionen entstanden im gesamten Land Kulturzentren, in den Bürger*innen nicht unähnlich zum Konzept „Kultur für Alle“ Kultur und Bildungsangebote wahrnehmen oder selber künstlerisch tätig werden konnten.


So erschreckend der historische Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise scheint, hält er auch den Schlüssel zur Lösung unserer Probleme bereit. Europa braucht eine entschiedene Reaktion, um den globalen Temperaturanstieg durch den Treibhauseffekt auf 1,5 Grad zu begrenzen. Wie bei den sozialen und wirtschaftlichen Reformen in den USA der 1930er Jahre muss der unmittelbaren Bedrohung durch den Klimawandel mit einer ökologischen Wende der Industriegesellschaft und einem tiefgreifenden kulturellen Wandel begegnet werden.


Der Cultural Green Deal als überzeugendes kulturpolitisches Narrativ und politisches Querschnittsthema


Wie der Fall der Berliner Mauer oder die Insolvenz der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers sind wir aktuell mit einem Ereignis von historischem Ausmaß konfrontiert, dessen Folgen noch nicht abzuschätzen sind. Mehr denn je sind die Ressourcen Kreativität und Fantasie gefragt. Mehr denn je braucht es eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, um eine der größten Herausforderungen seit Gründung der Bundesrepublik zu stemmen. Eine Möglichkeit, genau diese Potentiale von Kunst und Kultur zu mobilisieren, liegt in der Entwicklung eines neuen und überzeugenden kulturpolitischen Leitbilds. Dabei besteht die Möglichkeit, im Kontext des Cultural Green Deal an den Konzepten „Kultur für Alle“, „Soziokultur“ und „Kulturelle Bildung“ festzuhalten, diese aber vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels und der notwendigen sozio-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in einer großen Kraftanstrengung für eine kommende, gerechtere und lebenswertere Zukunft zu rekonzipieren.


Gerade in Abgrenzung zu Modellen der wirtschaftlichen Nutzbarmachung eben jener persönlichen Ressourcen Kreativität und Fantasie muss die gemeinwohlorientierte Dimension kultureller Bildung gestärkt und kulturellen, bildungstechnischen und ökonomischen Ungleichheiten entgegengewirkt werden, die durch Marktlogiken verstärkt werden. Ebenso wird die für das 21. Jahrhunderte zentrale Abkehr von fossilen Energieträgern zentral gesetzt und nach Möglichkeiten des Kulturbetriebs gesucht, diesen Wandel kulturell greifbar und wirkmächtig zu machen. Im Kontext des Cultural Green Deal sollen mehr Bürger*innen kulturelle Angebote wahrnehmen und Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten für all jene Bürger*innen aktualisiert werden.


Ein besseres Leben ist möglich


Dem Klimawandel muss mit einer Neuausrichtung politischen und wirtschaftlichen Handelns über den Horizont einzelner Legislaturperioden begegnet werden. Dabei ist es zentral, zu vermitteln, dass eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung zur Bekämpfung des Klimawandels auch zu mehr Lebensqualität führen kann. Wenn es gelingt, den Green New Deal mit einer anspruchsvollen kulturpolitischen Agenda zu versehen, kann die wirtschaftliche Wiederbelebung in der Post-Corona-Zeit zu mehr Selbstbestimmung und einer Aktualisierung angestaubter kulturpolitischer Legitimationsstrategien führen. Kulturpolitische Entscheidungen heute können deswegen den Grundstein für eine gerechtere Welt legen, in der in Zukunft mehr Menschen Zugang zu Kunst und Kultur haben und ein gutes Leben im Zentrum des gesellschaftlichen Fortschritts steht.


Der Text basiert in Teilen auf einem Beitrag in den Corona-Essays der Kulturpolitischen Gesellschaft im April 2020 und wurde für den Blog aktualisiert und erweitert.


Autor


Christian Steinau


Christian Steinau ist Gründer des am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München angesiedelten Cultural Policy Lab sowie der gemeinnützigen Ausgründung Cultural Policy Lab Research Services für Datenerhebung und Auftragsstudien im Bereich Kultur- und Kreativwirtschaft. Er leitet den Bereich Forschungstransfer des Käte Hamburger Kolleg global dis:connect an der LMU München und ist Mitglied im SprecherInnen-Rat der Bayerischen KuPoGe sowie Vorstandsmitglied des Kulturforums der Sozialdemokratie in München.

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